Das Live-Album “At The Deer Head Inn” von Keith Jarrett, Gary Peacock und Paul Motian wurde 1994 als Meisterwerk gefeiert. Zum 30-jährigen Jubiläum erscheint nun ein zweites Album mit bislang unveröffentlichten Aufnahmen des historischen Konzertes.
Keith Jarrett(c) Wolfgang M. Weber / ECM Records
06.11.2024
Das Live-Album “At The Dear Head Inn”, das Keith Jarrett am 16. September 1992 mit Gary Peacock und Paul Motian im Deer Head Inn eingespielt hat, nimmt unter all den Aufnahmen, die der Pianist der Auseinandersetzung mit Jazzstandards und dem “Great American Songbook” gewidmet hat, eine Sonderstellung ein. Mit “The Old Country” erscheint nun ein weiteres Tondokument von demselben Konzert, das ebenfalls in mehrfacher Hinsicht von großer historischer Bedeutung ist.
Idyllisch in den Pocono Mountains am Delaware Water Gap in Pennsylvania gelegen, bietet das Deer Head Inn neben Übernachtungsmöglichkeiten schon seit 1950 kontinuierlich Live-Musik und ist damit einer der ältesten Jazzclubs der USA. 1961 gab der Club dem damals 16-jährigen Keith Jarrett die Gelegenheit, zum ersten Mal mit einem eigenen Trio vor Publikum aufzutreten. Als die Besitzer Bob und Fay Lehr 1992 in den Ruhestand gingen und die Leitung an ihre Tochter Dona und ihren Schwiegersohn Christopher Solliday übergaben, bot Keith Jarrett an, erneut dort aufzutreten, um das anhaltende Engagement des Clubs für den Jazz zu würdigen.
Wenig überraschend spielte Keith Jarrett mit Gary Peacock und Paul Motian vor ausverkauftem Haus. Die Veranstaltung war nicht beworben worden, aber die Nachricht von dem bevorstehenden Konzert verbreitete sich durch Mundpropaganda wie ein Lauffeuer. The Morning Call, die Lokalzeitung von Jarretts Heimatstadt Allentown, berichtete später: "Von den 130 Leuten im Club mussten 30 stehen. Und draußen auf der Veranda drängten sich weitere 50 oder 60 Leute".
Das spontan organisierte Konzert bot damals die einzige Gelegenheit, Jarrett in dieser Konstellation live zu erleben. Der Bassist Gary Peacock war zu dieser Zeit ein engagiertes Mitglied von Jarretts sogenanntem Standards Trio, das durch Jack DeJohnette vervollständigt wurde. Schlagzeuger Paul Motian wiederum hatte den Pianisten 1967 zusammen mit Charlie Haden bei der Einspielung seines allerersten Soloalbums "Life Between the Exit Signs" begleitet und war danach sechs Jahre lang Mitglied von Jarretts American Quartet, das unter anderem auf den ECM-Alben "The Survivors Suite" und “Eyes Of The Heart” zu hören ist. Doch seit der Auflösung dieser Gruppe im Jahr 1976 hatte Motian nicht mehr mit Jarrett zusammengearbeitet. “Ich war nicht nur seit 30 Jahren nicht mehr als Pianist im Deer Head aufgetreten, sondern hatte auch seit 16 Jahren nicht mehr mit Paul Motian zusammengearbeitet. Es war also wie eine Wiedervereinigung und zugleich eine Jamsession”, schrieb Jarrett in den Liner Notes des Albums “At The Deer Head Inn”, auf dem 1994 eine erste Auswahl des bei diesem historischen Auftritt mitgeschnittenen Materials veröffentlicht wurde.
Das "Deer Head Inn"-Projekt ließ noch eine weitere alte Freundschaft Jarretts wieder aufleben. Denn die Idee, das Konzert aufzuzeichnen, stammte von dem Schlagzeuger Bill Goodwin, der auf dem Cover auch als Produzent genannt wird. Goodwin hatte 1970 bei der Aufnahme des Albums “Gary Burton & Keith Jarrett” für Atlantic mitgewirkt und war später zum Quartett des Altsaxofonisten Phil Woods gestoßen, das viele Jahre lang regelmäßig im Deer Head Inn auftrat. Eigentlich wollte er das Konzert nur für Keiths persönliches Tonarchiv dokumentieren. Doch als der Pianist die Aufnahmen hörte, war ihm sofort klar: “Das muss veröffentlicht werden… Ich glaube, dass man auf dieser Aufnahme gut hören kann, worum es im Jazz geht.”
Als "At The Deer Head Inn" 1994 veröffentlicht wurde, stimmte die Presse der Einschätzung des Pianisten zu. “Die Musik hat den Schwung und die unerschrockene Gefühlsbetontheit von Keith Jarretts besten Werken”, schrieb Stereophile. Gramophone hob unterdessen das “fesselnde” Zusammenspiel hervor, während die Los Angeles Times die Aufnahme als “ein Kompendium der Anmut” lobte.
Dreißig Jahre nach der Veröffentlichung von “At The Deer Head Inn” hielten es Keith Jarrett und Manfred Eicher für an der Zeit, sich den kompletten Konzertmitschnitt noch einmal anzuhören. Für das Album “The Old Country”, dessen Untertitel “More From The Deer Head Inn” auf das Vorgängeralbum verweist, wählten sie acht bisher unveröffentlichte Stücke aus. Das Repertoire umfasst mit “Everything I Love” und “All Of You” gleich zwei Stücke von Cole Porter, “Straight No Chaser” von Thelonious Monk, “I Fall In Love Too Easily” von Jule Styne, “Someday My Prince Will Come” von Frank Churchill, “How Long Has This Been Going On” von George Gershwin, “Golden Earrings” von Victor Young und “The Old Country” von Nat Adderley.
Keith Jarrett - Someday My Prince Will Come (Live)
Keith Jarrett & Jan Garbarek: Luminessence (Luminessence Serie)
VÖ: 01. März 2024
Luminessence Series , Keith Jarrett
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“Luminessence”-Serie: ECM-Klassiker auf Vinyl
Die im vergangenen Jahr lancierte audiophile Vinyl-Reissue-Serie “Luminessence” wird im März mit der Wiederveröffentlichung dreier Alben von Jan Garbarek und und Azimuth fortgesetzt.
Im April 2023 begann ECM damit, in seiner neuen Reihe “Luminessence” einige der frühesten Alben des Labels auf hochwertigem Vinyl wiederzuveröffentlichen. Bisher erschienen bereits Gary Burtons “The New Quartet”, Kenny Wheelers “Gnu High”, Naná Vasconcelos’ “Saudades” (feat. Egberto Gismonti), “Old And New Dreams” von dem gleichnamigen US-amerikanischen All-Star-Quartett und die drei LPs enthaltende Keith-Jarrett-Box “Solo-Concerts Bremen/Lausanne”.
Jetzt wird die Reihe im Frühjahr 2024 mit weiteren wichtigen Alben fortgesetzt. Zwei davon präsentieren den Saxophonisten Jan Garbarek in sehr unterschiedlichen Kontexten. Auf dem ursprünglich 1975 erschienenen Album “Luminessence” (dem diese Reissue-Serie auch ihren Titel verdankt) ist Garbarek mit dem Südfunk-Sinfonieorchester unter der Leitung von Mladen Gutesha und Kompositionen von Keith Jarrett zu hören. “Afric Pepperbird” wiederum, Garbareks ECM-Debütalbum, entstand 1970 im Quartett mit Terje Rypdal, Arild Andersen und Jon Christensen. Darüber hinaus gibt es noch eine Neuauflage des 1977 erschienenen Debütalbums des britischen Trios Azimuth, das die spezielle Synergie zwischen der Vokalistin Norma Winstone, dem Pianisten John Taylor und Trompeter Kenny Wheeler dokumentierte. Im weiteren Verlauf des Jahres sollen darüber hinaus noch Alben von Zakir Hussain, Pat Metheny, Jan Garbarek, Bennie Maupin, Rainer Brüninghaus sowie Kenny Wheeler mit Lee Konitz, Dave Holland und Bill Frisell neu aufgelegt werden.
Keith Jarrett: Solo Concerts Bremen / Lausanne (3LP)
VÖ: 27. Oktober 2023
Luminessence Series , Keith Jarrett
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Auftakt zu einer einzigartigen Solo-Odyssee: “Solo Concerts: Bremen Lausanne” von Keith Jarrett
Vor 50 Jahren setzte Keith Jarrett mit “Solo Concerts: Bremen Lausanne” einen neuen musikalischen Meilenstein. Zum Jubiläum erscheint in der “Luminessence”-Vinyl-Reihe nun eine Faksimile-Edition mit den drei LPs.
Keith Jarrett
26.10.2023
Wie Keith Jarrett 1973 in seinem Begleittext zu “Solo Concerts: Bremen Lausanne” schrieb, dokumentiert dieses Dreifach-Album Momentaufnahmen “eines Künstlers, der auf spontane Weise etwas erschafft, das von der Atmosphäre, dem Publikum, dem Ort (sowohl dem Raum als auch der geografischen Lage) und dem Instrument bestimmt wird; all dies wird bewusst durch den Künstler kanalisiert, sodass die Bemühungen aller gleichermaßen belohnt werden, obwohl der Erfolg oder Misserfolg vollständig dem Künstler selbst gehört. Der Künstler ist für jede Sekunde verantwortlich.” Die Box, die nun als Teil der gefeierten “Luminessence”-Vinyl-Reihe von ECM in einer Faksimile-Edition wiederveröffentlicht wird, enthält zwei über einstündige Mitschnitte der beiden Solokonzerte, die der Pianist im März und Juli 1973 in Lausanne respektive Bremen gegeben hatte. Die Aufnahmen bildeten den Auftakt zu Jarretts einzigartiger Solo-Odyssee, die sich über mehr als vier Jahrzehnte erstrecken und insgesamt achtzehn Live-Alben (viele davon Mehrfach-Alben) von seinen Solokonzerten hervorbringen sollte. Bis heute haben diese Aufnahmen, bei denen Jarrett mit seinen fantasievollen und epischen Solo-Improvisationen ad hoc Musikgeschichte schrieb, nichts von ihrer ursprünglichen Faszinationskraft eingebüßt.
Als “Solo Concerts: Bremen Lausanne” vor fünfzig Jahren zum ersten Mal erschien, war die Begeisterung von Musikfans und Kritikern in aller Welt schier überwältigend. Das Album wurde mit Auszeichnungen überschüttet und im Time Magazine, in der New York Times, in Down Beat und Stereo Review in den USA, im Jazz Forum in Polen und im Swing Journal in Japan als Album des Jahres gefeiert. In Deutschland wurde es mit dem Großen Deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet. Wie hoch es auch heute noch bei Musikhörer(inne)n im Kurs steht, zeigt sich erst kürzlich bei einer Umfrage des britischen Mojo-Magazins zu Jarretts Gesamtwerk, bei der die Leser/innen “Solo Concerts: Bremen Lausanne” auf Platz 1 wählten. “Dies ist das Nonplusultra des Jarrett-Solo-Livekonzerts in all seiner improvisatorischen Pracht”, merkte die Redaktion an. Und in einer ausführlichen Rezension, die im August 2023 bei Pitchfork erschien, bezeichnete Mark Richardson das Album als ein "karrierebestimmendes Jazz-Meisterwerk" und schrieb, dass die “strukturelle Kohärenz dieser langen Improvisationen über zwei einstündige Sets hinweg erstaunlich ist”.