Tom Chaplin
Bio 2016
Sicherlich werden viele Leute nun sagen: Tom Chaplin – den kenne ich doch. Schließlich verbirgt sich hinter diesem Namen die Stimme von Keane, jener unglaublich erfolgreichen britischen Band-Institution, die seit über 10 Jahren für ihre Hymnen bekannt ist und die gleich fünf Alben zwischen 2004 und 2013 an die Spitze der UK-Charts befördern sollte. Und gewiss ist Chaplins Stimme für immer mit millionenfach verkauften Hits wie “Everybody’s Changing“, “Is It Any Wonder?“ oder auch “Somewhere Only We Know“ verbunden. Zugleich jedoch gab’s schon immer eine Seite, die der Sänger nicht mit dem Rest der Welt geteilt hat, die selbst im grellsten Rampenlicht nicht zu sehen war. Und jetzt, nach einer dreijährigen intensiven Phase, in der Tom Chaplin durch seine ganz eigene Version der Hölle gehen musste, meldet er sich zurück mit seinem Solo-Debütalbum “The Wave“. Ein Album, das er komplett selbst geschrieben hat: 11 Songs, in denen Chaplin auch diese andere Seite seiner Persönlichkeit präsentiert, kein Blatt vor den Mund nimmt. Das Album zeichnet dabei eine Entwicklung nach: Eine emotionale Reise, die von absoluter Verzweiflung zu einem Gefühl der Erlösung führt, hin zu Liebe, Selbstakzeptanz – und verpackt in massiven, unglaublich emotionalen Popsongs. Die Stimme also, die erkennt man wieder. Aber die Geschichten, die sie erzählt, klingen dieses Mal komplett anders.
“Es gab ja sogar Phasen, in denen ich meine Stimme einfach nur gehasst habe, wirklich gehasst“, gesteht Tom heute ganz offen. “Ich hatte das Gefühl, dass sie irgendetwas über mich zum Ausdruck bringt, das gar nicht stimmte und nicht echt war. So à la: Dieser Typ ist ein guter Chorsänger. Alles wirkt ganz rein, engelsgleich. Aber die Wahrheit war natürlich sehr viel komplexer und sehr viel düsterer.“
Während ihm diese Ausnahmestimme also internationale Erfolge bescherte indem er die Songs seines Bandkollegen Tim Rice-Oxley sang, führte Tom einen bitteren Kampf mit seiner eigenen Unsicherheit, mit seiner Abhängigkeit und seinem Selbsthass. “Ein seltsamer Kampf war das. Schließlich bescherte mir meine Stimme einerseits diesen unglaublichen Erfolg, aber ich sang nun mal die Songs von jemand anderem – ich konnte mich also fast schon dahinter verstecken.“ Zugleich versank er, um das grelle Rampenlicht aushalten zu können, immer tiefer in seiner Alkohol- und Kokainsucht. “Ich weiß ehrlich gesagt nicht mal, wie meine Stimme diese ganzen Eskapaden der letzten Jahre überhaupt überstanden hat. Erst jetzt habe ich gelernt, sie wirklich zu schätzen: Weil sie das Ventil ist, mein Medium, mit dem ich ausdrücken kann, was mir wirklich etwas bedeutet.“
“The Wave“ ist ein zutiefst persönliches, bewegendes Album, das von Selbstzerstörung erzählt – und vom Weg zurück, von einer Genesung danach. “Mein Ziel war, dass es zwischen der Wirklichkeit meiner Erfahrungen und den Zuhörern keinerlei Abgrenzung mehr geben sollte. Das war der Ort, an den ich mich musikalisch bewegen wollte: Hin zu absoluter Kompromisslosigkeit.“ Von dem spirituellen Kern des Eröffnungstracks “Still Waiting“ bis zur sanften, romantischen Ballade “Hold On To Our Love“, vom epischen Popsong “Hardened Heart“ bis zu den Einsichten der mitreißenden Hymne (und Single) “Quicksand“ oder der flüchtigen Schönheit des Abschlusstitels: “The Wave“ ist ein unvergleichlich persönliches und dramatisches Album. “Ein Konzeptalbum ist es nicht, aber es verfolgt durchaus einen erzählerischen Bogen: von der absoluten Verzweiflung hin zu einer Art Auflösung.“ Dabei zieht es einen kein bisschen herunter, diese Songs zu hören, im Gegenteil: Die Melodien sind genauso eingängig und mitreißend, das Hymnenpotenzial genauso hoch und die Produktion genauso satt wie man es von einem Keane-Album erwarten würde. “Licht und Schatten sollten sich im Verlauf des Albums abwechseln; es sollte auch seichtere, gefühlvollere Momente geben, nicht bloß diesen bombastischen Rocksound. Allerdings scheint meine Stimme quasi für eine gewisse Art von Sound gemacht zu sein. Als Songschreiber und Sänger neige ich wohl eher zu den großen, dramatischen Gesten, zu den großen Spannungsbögen, die zu diesen Momenten hinführen.“
Aufgewachsen in Hastings in Sussex, gründeten Tom und seine Schulfreunde die Band Keane schon in den Neunzigern. Anfangs war er noch einer der zentralen Songwriter der Gruppe, doch als sich sein Bandkollege Rice-Oxley in dieser Hinsicht als echtes Ausnahmetalent entpuppte, zog er sich mehr und mehr zurück und konzentrierte sich auf den Gesang: “Ja, mit dem Schreiben hörte ich irgendwann einfach auf. Ist ja auch hart, sich mit einem Songwriter wie Tim zu messen und da mithalten zu wollen. Ich war echt ganz schön unsicher damals. Und ich habe meine ganzen kreativen Ansätze andauernd mit Drogen zerstört.“
Schon im Jahr 2006, als Keane auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs waren, kam heraus, dass Tom im Priory Hospital eingecheckt hatte, um dort einen Entzug zu starten. Und es klappte: Er wurde clean, mit Keane ging’s weiter. 2011 heiratete er seine Freundin Natalie Dive. Das Leben lief wieder, alles war gut. Aber 2013 wurde ihm klar, dass er etwas ändern musste. “Ich musste einfach wieder selbst Songs schreiben. Das war so ein wichtiger Faktor, um mich als Mensch, als Individuum auszudrücken – und ich hatte das viel zu lange vernachlässigt. In den Jahren vor unseren Erfolgen war Songwriting mein persönliches Ventil gewesen. Ich weiß noch, wie ich eines morgens aufwachte und dachte: Ich muss diese Möglichkeit einfach wahrnehmen.“ Genauer: Chaplin wollte ein Soloalbum machen, ein Unternehmen, das ihm nur mit etwas Abstand von Keane gelingen konnte, wie er meinte. “Das hat sich schon seltsam angefühlt: In einer echt erfolgreichen Band zu sein, dort aber diesen wichtigen Teil meiner Persönlichkeit nicht ausleben zu können…“
Schließlich kündigten Keane also eine längere Pause an, eine Phase, in der alle Beteiligten an anderen Projekten arbeiten konnten. Doch nach einem ersten Ideenschub landete Tom schon bald in einer kreativen Sackgasse. Auch sein Leben geriet zunehmend aus den Fugen. “Ich fühlte mich grausam und schrecklich unsicher.“ 2014 kam dann seine Tochter zur Welt. “Genau an dem Punkt, als ich am meisten Drogen konsumierte. Ich war gefangen in so einem Höllenwahnsinn, aus dem es wirklich keinen Ausweg zu geben schien.“ Das ging so weit, dass ihm selbst diejenigen, auf die er am stärksten angewiesen war, nicht mehr vertrauen wollten. “Ja, selbst meine Familie hatte mich an dem Punkt aufgegeben. Anfang 2015 ließ ich mich dann tagelang richtig gehen: vier, fünf Tage, nach denen ich wirklich glaubte, nun sterben zu müssen. Das Gefühl war so heftig. Und da sagte ich zu mir selbst: ‘Wenn ich hier lebend rauskomme, dann werde ich’s wirklich versuchen und mein Leben verändern.’ Ich konnte einfach nicht mehr weitermachen. Es tat zu weh. Und so stand ich am nächsten Tag auf und begann tatsächlich damit, das alles wieder in Ordnung zu bringen.“
Und während seine Beziehungswunden langsam verheilten und es ihm auch gesundheitlich besser ging, kamen auch die Songideen zurück: “Man kann schließlich nur das schreiben, was man in sich hat. Ich musste mich als Mensch erst mal wieder öffnen, Dinge an mich ranlassen: Erst dann kamen die Songs aus mir heraus.“ Dazu arbeitete er mit anderen Schreibern und Produzenten zusammen. “Im Grunde genommen bin ich ja ein Einzelgänger: Am liebsten würde ich mich immer an einen dunklen Ort zurückziehen und mich dort verstecken. Aber die Arbeit mit anderen Leuten hat mich dazu gezwungen, mehr aus mir herauszugehen. Und sobald ich dann jemanden hatte, der mir Feedback zu den Ideen geben konnte, fühlte sich das echt befreiend an.“ Produziert wurde das Album von Matt Hales, auch bekannt als Aqualung, wobei Tom bei einzelnen Tracks als Co-Produzent aktiv wurde. “Ich habe mit vielen echt guten Leuten gearbeitet, aber mir war einfach zu wichtig, zu 100% Herr dieser Songs zu bleiben. Ich wollte einfach nicht mehr die Songs, die Texte von anderen singen. Das hier ist mein Leben: Jeder Ton, jedes Wort von diesem Album stammt wirklich von mir selbst.“
Die erste Singleauskopplung “Quicksand“ ist eine massive Hymne, die davon handelt, auch die denkbar schwersten Momente und Schicksalsschläge zu überleben: “You’ll be knocked out, come around, shot down, shatter on the stony ground / Take it from me, that’s how it will be … Life’s gonna bring you glory / But there’s another side to the story / You get up and suck it up / You keep rolling on.“ Tiefschläge und der Wille, doch weiterzumachen – und ein Titel, mit dem er sich einerseits an seine noch sehr kleine Tochter richtet, zugleich aber auch an den jüngeren Tom Chaplin selbst: “Als ich aufwuchs, hatte ich ja keine Ahnung, wie schlimm das alles werden kann“, meint er rückblickend. “Ich war einfach nicht vorbereitet auf die wirklich wichtigen Dinge; wie es zum Beispiel ist, wenn einem das Herz gebrochen wird. Bei meiner Tochter soll das anders sein: Ich will ihr sagen, wie die Dinge wirklich laufen, sie soll die Realität nicht nur mit Zuckerguss kennenlernen. Aber ich will auch einfach da sein für sie, und das macht den Kern dieses Albums aus, weil ich inzwischen ja weiß, dass ich das auch kann.“
So abgründig und ungeschönt sich Tom Chaplin in diesen neuen Songs auch präsentiert: Im Kern von “The Wave“ steht doch etwas Lebensbejahendes und Optimistisches. Das hört man sofort: Der Sound ist groß angelegt, mitreißend, massiv. “Es ist einfach so befreiend, wenn man plötzlich nicht mehr auf die eigene Rolle innerhalb der Band reduziert wird“, so Chaplin. “Dadurch konnten wir zum Beispiel auch mit ganz anderen Instrumenten arbeiten. Die Palette ist einfach größer. Die Orchester-Parts sind echte Bläser, echte Streicher, und trotzdem war uns wichtig, dass das Ganze schön geerdet klingt. Die Gitarren spielen eine viel größere Rolle als bei Keane, während das Klavier eher nur ein Teil des Gesamtsounds ist, nicht das zentrale Instrument.“
Man spürt, dass Tom Chaplin sehr, sehr stolz ist auf dieses Album: “Ja, ich kann’s noch gar nicht so ganz glauben, dass ich das so geschafft habe. Es hat sich ja so lange eher wie ein Traum angefühlt, der so weit entfernt im Nebel lag.“ In gewisser Hinsicht handle das Album, so Chaplin, davon, sich selbst zu akzeptieren – mit allen guten und schlechten Seiten. “Es handelt davon, zu diesem einsamen Jungen zurückzukehren, den ich viel zu lange verdrängt habe – und endlich Frieden mit ihm zu schließen.“ Den Titelsong “The Wave“ bezeichnet der Sänger dann auch als “Gebet für mehr Anstand und Anmut. Eines meiner größten Probleme überhaupt besteht darin, dass ich glaube, ich könnte entweder eine gute Phase verlängern – oder die schlechten Gefühle einfach ausblenden. In Wahrheit funktioniert das natürlich nicht. Und so handelt das Album auch davon, diese Tatsache zu akzeptieren und nicht die ganze Zeit gegen das zu kämpfen, was mir das Leben in den Weg legt. Ich weiß jetzt, dass ich das nicht alles steuern kann. Ich kann auch nicht die ganze Zeit kämpfen. Und ehrlich gesagt fühlt es sich auch viel schöner an, wenn man manche Dinge einfach geschehen lässt.“
Indem er sich seinen Dämonen gestellt und den Kampf gewonnen hat, wirkt Tom Chaplin heute sehr viel reifer – und sehr viel inspirierender als zuvor. Und zwar als Mensch und als Künstler gleichermaßen: “The Wave“ könnte tatsächlich das größte und wichtigste Werk seiner bisherigen Karriere sein. Er habe keinerlei Problem damit, in diesen Songs auch absolut Persönliches mit dem Rest der Welt zu teilen: “Ich finde sogar, dass es wichtig ist, genau das zum Ausdruck zu bringen. Ich glaube nämlich, dass es viele Menschen gibt, die in einer ähnlichen Sackgasse stecken und einfach Angst haben, etwas dagegen zu unternehmen. Und was die Leute angeht, die sich schon ein Bild von mir gemacht hatten: Sollen sie doch lieber hören, wie’s wirklich aussieht bei mir, anstatt mit irgendeiner geschönten, halbwahren Fantasieversion davon zu leben. Auf diesem Album zeige ich, wer ich wirklich bin.“
Album: The Wave
VÖ: 14.10.