Das
Album “Die Unendlichkeit” von
Tocotronic ist das bereits zwölfte Studioalbum der Hamburger Band und bildet den Nachfolger des 2015 veröffentlichten
“Das rote Album”. Es ist ein Konzeptalbum, eine Biografie der Band und ihrer Mitglieder. Ein Ansatz, den Tocotronic 15 Jahre lang abgelehnt haben. Aber einmal gefunden, erwies sich die Vorgabe, über das eigene Leben zu schreiben, als äußert produktiv. Wobei das Album keinesfalls eine individualistische Nabelschau geworden ist. Denn es erzählt von allgemein gültigen, wenn nicht existenziellen Erfahrungen: von Angst, Verliebtsein, Einsamkeit und Tod. Mit dieser neuen Art von Songwriting geht eine andere Sprache einher. Eine, die keine Verklausulierungen duldet. “Die Unendlichkeit” ist daher auch ein Neubeginn.
Das Eröffnungs- und Titelstück “Die Unendlichkeit”sowie das orchestrale “Mein Morgen” bilden das Vor- und Nachwort, eine Klammer für das aufwendig produzierte Album der Band. “Tapfer und Grausam” handelt von der frühen Kindheit, dem Gefühl des Ausgeschlossenseins und der Herzlosigkeit anderer Kinder. “Hey Du” erzählt vom Anderssein in der Fußgängerzone der Provinz, vom Beschimpft- und Vermöbeltwerden, aber auch vom unverhohlenen Stolz, modisch aufzufallen. “1993” führt zurück ins Gründungsjahr der Band, dem Auszug aus der Hölle Heimat in Richtung Hamburg. Form und Inhalt kommen zur Deckung: Dirk von Lowtzows Stimme klingt hier viel heller und jünger als auf den Stücken, die von späteren Ereignissen und Lebensphasen erzählen. Jan Müllers Bass und Arne Zanks Schlagzeug bollern wie in den Anfangstagen der Band, Rick McPhails Gitarre jault. Auf die Saufexzesse in den dunklen Hamburger Kaschemmen und eine beginnende Sucht folgt ein Umzug nach Berlin. “Ausgerechnet du hast mich gerettet” erzählt von dieser Errettung, wobei mit dem Du statt der Stadt – nicht schön, doch auch kein Biest – auch eine geliebte Person gemeint sein könnte. “Ich lebe in einem wilden Wirbel” ist ein Lied über die erste große Liebe und das Gefühl, durch sie über die Dörfer fliegen zu können. In “Bis uns das Licht vertreibt” wird um das Gefühl hysterischer Einsamkeit und um viele gerauchte Zigaretten gekreist.
“Die Unendlichkeit” ist auch ein historisches Deutschland-Porträt. Da sind die Koordinaten einer Provinz-Pubertät, das von Apfelkorn befeuerte Rumlungern an der Bushaltestelle und die RAF-Fahndungsplakate, in der Coming-of- Age-Hymne “Electric Guitar”, die gleichzeitig auch ein Geburtstagslied zum Hundertjährigen des Instruments ist. Das Bordtelefon im ICE, das in “Unwiederbringlich”auftaucht, einem Stück über das Sterben eines engen Freundes, erinnert an eine Zeit, von der aus gesehen die Technik, mit der wir kommunizieren, als Science Fiction erscheint. “Mein Morgen” wiederum hat diese Endzeit-Grundierung der 80er-Jahre, die unter dem Eindruck des Kalten Kriegs, Tschernobyls und des Waldsterbens herrschte und die derzeit wieder so gegenwärtig wirkt. Nächste Ausfahrt Apokalypse. “Ich würd’s dir sagen” schließlich ist eine Art dunkles Kinderlied über Begehren, erotische Phantasmen und Todessehnsucht. Zu Ende geht das Album mit einem Stück, das wie zum Trotz noch einmal einen klassischen Tocotronic- Slogan liefert: “Alles was ich immer wollte war alles”. Und darum geht es in “Die Unendlichkeit”: um nicht weniger als alles.