Der Dirigent Hans von Bülow meinte, es sei das “Alte Testament eines jeden Klavierspielers” und Robert Schumann sprach sogar vom “Werk aller Werke”. Tatsächlich hat das “Wohltemperierte Klavier” von Johann Sebastian Bach eine Schlüsselstellung in der abendländischen Musikgeschichte. Es ist die praktische, perfekte Umsetzung eines theoretischen Epochensprunges, die die künstlerische Entwicklung der folgenden Jahrhunderte erst möglich machte.
Es war ein verzwicktes Problem. Die natürliche Ordnung der Intervalle, deren Abfolge auf physikalischen Schwingungsverhältnissen beruht, sorgte für Verschiebungen innerhalb der Stimmung von Instrumenten. Zwölf Quinten im gegebenen Verhältnis von 2:3 übereinander geschichtet zum Beispiel ergab einen höheren Ton als sieben Oktaven im Verhältnis 1:2. Das wiederum bedeutete für Komponisten, dass ihre gestalterische Flexibilität in bezug auf das Transponieren immens eingeschränkt war. Dieses Manko war bereits im 17.Jahrhundert ausführlich beschrieben worden. Der Organist Andreas Werkmeister errechnete 1691 sogar eine “wohl temperierte” Stimmung, die es durch kleine Abweichungen ermöglichte, die Oktave in 12 eindeutige Einzeltöne zu zerlegen. Trotzdem blieb die Akzeptanz des neuen Systems in der barocken Musikwelt zunächst verhalten, vor allem aus philosophisch-religiösen Gründen. Denn genau genommen bedeuteten die korrigierten Tonhöhenverhältnisse einen Eingriff in die natürliche, gottgewollte Ordnung. Erst Johann Sebastian Bach setzte sich als selbstbewusster Protestant darüber hinweg und schuf 1722 mit dem ersten Büchlein des “Wohltemperierten Klaviers” (BWV 846–869) einen Zyklus für Tasteninstrumente, der mit je zwölf chromatisch durch alle Tonarten angeordneten Präludien und Fugen die Änderung des Gestaltungsparadigmas festhielt. Es war als Lehrwerk für Anfänger am Klavier, aber auch zum “zeitvertreib [für die] in diesem studio schon habil seienden” gedacht und wurde in seiner Bedeutung noch dadurch unterstrichen, dass der Komponist 1744 (BWV 870–893) nach dem gleichen Muster noch einen zweiten Zyklus hinzufügte.
Die beeindruckend große Spannweite des musikalischen Ausdrucks vom Feierlichen bis zum Ausgelassenen, von einfacher Diatonik bis zu komplexer Chromatik und klarer Gliederung bis zum dichten Fugengeflecht machte die Sammlung zu einem der zentralen und meistgespielten Werke des Komponisten. Kaum ein ambitionierter Laie oder arrivierter Spezialist hat auf die Beschäftigung mit den Zyklen verzichtet. Die Liste der Referenzen ist lang und so erfordert es einiges an Perfektion und Selbstbewusstsein, sich an eine Neuinterpretation des Werkes zu wagen. Der junge österreichische Pianist Till Fellner hat es dabei auf Anhieb geschafft, aus der Herausforderung eine künstlerische Visitenkarte zu machen. 1972 in Wien geboren, bei Helene Sedo-Stadler, Alfred Brendel, Meira Farkas und Oleg Maisenberg ausgebildet, hatte er bereits 1993 von sich Reden gemacht, als er als erster Österreicher in der Geschichte des Concours Clara Haskil in Vevey den ersten Preis gewann. Seitdem hat Fellner mit zahlreichen renommierten Ensembles und hervorragenden Kammermusikpartnern wie dem Alban Berg Quartett, Heinrich Schiff und Thomas Zehetmaier konzertiert. Für die Saison 1999/2000 erarbeitete er einen außergewöhnlichen, aus jeweils drei Abenden bestehenden Recital-Zyklus, bestehend aus dem erste Buch des “Wohltemperierten Klaviers” und den letzten fünf Klaviersonaten von Beethoven, den er mit großem Erfolg unter anderem in Brüssel, London, Lyon, Rom, Paris und Wien präsentierte.
Im Anschluss daran entstand auch der Gedanke, die berühmten Präludien und Fugen für ECM New Series aufzunehmen. Im September 2002 wurden die Pläne im Wiener Jugendstiltheater zur Realität. Und bereits jetzt ist abzusehen, dass Fellner damit ein großer Wurf gelungen ist. Stellvertretend für die begeisterte Presse meinte etwa Helmut Rohm vom Bayerischen Rundfunk B4: “Fellner, der über einen wunderbar präzisen, ziselierten und zugleich seidenweichen Anschlag verfügt, verzichtet auf alle Mätzchen und Manierismen. Er spielt wie selbstverständlich – was manchem aufs erste Hören reichlich unspektakulär erscheinen mag und doch sofort aufhorchen macht. Auch was die jeweilige Balance zwischen Präludium und Fuge betrifft, rühren seine Tempi nie an die Extreme; vielmehr etablieren sie sich unmittelbar mit und nach der Auftaktgeste fast wie naturgegebenes Fließen. Dieses sehr persönliche Spiel gewinnt seine Suggestionskraft und Schönheit aus der Tatsache, dass da jemand musiziert, der dem Werk keine individuelle Note aufdrängen will. Umgekehrt: Till Fellner vertraut darauf, dass künstlerisches Profil und Persönlichkeit aus dem unerschöpflichen Licht und Reichtum dieser Musik transparent wird.” So gehört Fellners “Wohltemperiertes Klavier” bereits kurz nach seiner Veröffentlichung zu den Referenzeinspielungen des Werks.