Hin und wieder kommt es vor im Leben, dass man zufällig auf etwas stößt, das einen packt, nicht mehr loslässt, durchrüttelt und tief im Inneren bewegt. Dabei erkennt man auf den ersten Blick, noch bevor man sich also der Sache so recht bewusst werden kann, dass man es hier mit einem Gut zu tun hat, das äußerst selten geworden ist in dieser Welt, in der sich alles viel zu häufig um Schein und Schwindel dreht: Authentizität.
Im Sommer 2007 erlebte ich eine derartige Epiphanie, und zwar stand ich in einem jener etwas unzeitgemäßen Hippie-Schuppen, wie man sie immer noch in der Haight/Ashbury-Gegend von San Francisco findet. Er kam aus den Lautsprechern an der Decke, dieser Sound, zugleich roh und wild und unfassbar schön. Ein Sound, den ich nur als eine Art reines, unverfälschtes Glücksgefühl beschreiben kann.
„Großer Gott, was sind das für Typen?“, fragte ich laut, und der Mann an der Kasse hielt als Antwort ein CD-Cover in die Höhe. Der Song hieß „Die, Die, Die“, das Album Emotionalism. Die Band hörte auf den Namen The Avett Brothers. Noch im selben Moment rannte ich los, stürmte aus dem Laden und verlangsamte mein Tempo erst wieder, als ich selbst ein Exemplar von diesem Schatz ergattert hatte.
Keine Frage: Es war Liebe beim ersten Anhören. Dieser laute, klare Gesang, die stürmischen Harmonien und Melodien; der organische Sound echter Instrumente, akustischer Instrumente, einfach nur rein und nicht mal ansatzweise befleckt mit irgendwelchen elektronischen Spielereien. Echte Musiker, die echte Musik machten. Und dann erst die Texte dazu – besser, betörender als jedes Gedicht.
Mit Dylan aufgewachsen und auch in Sachen Guthrie recht bewandert, war ich nach und nach zu der Auffassung gekommen, dass die besten Tage des amerikanischen Roots-Rock längst hinter uns lagen. Falsch gedacht, wie ich nun einsehen musste: Diese Art von Sound lebte sehr wohl noch, und zwar schlummerte sie in zwei Brüdern, die im Bergvorland von North Carolina aufgewachsen sind und in ihrem Gesang und ihrer Musik eine ganz besondere Chemie entwickelt hatten, wie es nur Brüdern gelingen kann. Ihr Großvater, Clegg Avett, war Landpfarrer gewesen, und von ihm hatten sie gelernt, dass man die Menschen nicht mit großen Predigten für sich gewinnt, sondern mit guten Geschichten – mit Storytelling –, indem man seinen Blick auf die Herzen der Menschen richtet und nach jenen Wahrheiten sucht, die für uns alle gelten.
Als Scott und Seth Avett gemeinsam mit dem Bassisten Bob Crawford – dem dritten „Ehrenbruder“ quasi – ihre Band The Avett Brothers gründeten, hatte somit ein ganz neues Kapitel im Great American Songbook begonnen: Ein Kapitel, das sich vor Bluegrass und Country und Folk und Rock und Grunge und Punk verneigte und doch in keine dieser Kategorien so recht passte; dann schon eher in alle zugleich. Ein Kapitel, das zugleich energiegeladen und gefühlvoll, ausgelassen und teilnahmsvoll, vom alten Schlag und cutting edge, lärmend und lieblich war.
Ein neues Kapitel und ein vollkommen einzigartiger Sound also, den man eigentlich nur mit drei Worten beschreiben kann: The Avett Brothers.
Wenn Emotionalism das Album war, mit dem ihnen der Durchbruch gelang, so muss der Nachfolger, I and Love and You von 2009, als jene LP gelten, mit der sie gewissermaßen erwachsen wurden: Erstmals arbeiteten sie mit Produzentenlegende Rick Rubin zusammen, dem es gelang, diszipliniert an den Aufnahmen zu arbeiten ohne dabei die Spontaneität und den Enthusiasmus zu zerstören, der ihre vorangegangen, im Alleingang produzierten Aufnahmen so einzigartig gemacht hatte. Grandiose Songs wie „January Wedding“, „Laundry Room“ und „The Perfect Space“ avancierten im Handumdrehen zu Lieblingsstücken der Fangemeinde, wodurch das Album schließlich sogar in die Top−20 der US-Billboardcharts gehen sollte. Dann kamen die Late-Night-Shows und Auftritte bei Austin City Limits oder auch zur Verleihung der Grammy Awards. Anders gesagt: Die Jungs aus North Carolina waren inzwischen eine richtig große Nummer geworden.
Nun sind sie also zurück, die Avetts, und wieder saß Rubin hinter den Reglern, als es darum ging, den Nachfolger von I and Love and You aufzunehmen: Mit den 12 Songs, die sie auf The Carpenter versammelt haben, setzen die Brothers ihre Suche nach dem Kern des menschlichen Daseins fort. Es sind Songs, die einen packen, innehalten lassen und zum Nachdenken zwingen. Einen Moment lang ist alles Sonnenschein und reinstes Glück, und schon im nächsten bleibt nur Leid und Reue – nur ehrlich, unbedingt ehrlich, und schön, das sind diese Songs immer. Reinste Poesie, wie von der Seele selbst verfasst.
Gerade erst zurück von einer Tour in ihrer Heimatstadt Concord in North Carolina angekommen, sind Scott und Seth Avett sich darüber einig, dass The Carpenter sich anders anfühlt als die Vorgänger, dass diese LP mehr Tiefe und Tiefgang hat und ihre Hoffnungen und Ängste sehr viel direkter widerspiegelt. Reifer und klüger wirken sie, ihr Blick auf die Zerbrechlichkeit des Glücks und die Endlichkeit des Lebens wirkt geschärft. Und so spiegelt The Carpenter letztlich den Weg dieser Brothers wider, indem sie älter werden und somit auch die unvermeidbaren Realitäten, die uns alle erwarten, immer näher rücken.
„In der Zeit zwischen I and Love and You und diesem Album, in diesen drei Jahren habe ich mich größtenteils mit der Frage befasst, was man tun muss, um sich von gewissen Angewohnheiten zu trennen“, berichtet Scott. „Dieses Album fühlt sich viel mehr wie ein Ganzes aus vielen kleinen Präzisionsteilen an – quasi wie ein gut geölter Motor –, und diese Teile arbeiten viel besser zusammen als das früher der Fall war. Das Album fühlt sich einfach sehr viel runder und schlüssiger an als die Vorgänger.“
Seth sieht das genauso: „Als wir I and Love and You aufgenommen haben, hatten wir ganz schön viel zu verarbeiten. Wir wollten in vielerlei Hinsicht den nächsten Level erreichen. I and Love and You war das Ergebnis einer Arbeitsweise, bei der wir uns quasi in den nächst größeren Raum bewegt haben – uns dort aber noch nicht auskannten und deswegen auch ein wenig unlocker waren.“ Dieser „größere Raum“ beinhaltete die Arbeit mit einer Produzentenlegende und mit Studiomusikern, und da es sich um ihr erstes Werk für ein Major-Label handelte, mussten sie sich auch an die damit verbundenen Erwartungen und den erhöhten Druck gewöhnen. „Inzwischen sind wir recht routiniert, was das angeht. Wir befinden uns schließlich nun schon länger auf diesem zweiten Abschnitt unserer Reise. Sich in seiner Haut und seiner Rolle wohl zu fühlen und zu wissen, wozu man in der Lage ist, was man realisieren kann, hat uns dieses Mal also erlaubt, den Fokus auf die Songs selbst zu legen – ohne andauernd von dem ganzen Drumherum abgelenkt zu werden.“
Und diese Songs, die so entstanden sind, tun das, was jedes große Werk tun muss: Sie erkunden das Leben, beleuchten einzelne Aspekte des menschlichen Daseins. „Winter in My Heart“ zum Beispiel handelt von der Hoffnungslosigkeit, die eine Depression mit sich bringt. „Through My Prayers“ ist ein Stück über Reue: Der Erzähler hat einen geliebten Menschen verloren und erkennt, dass es noch Dinge zu sagen gab, die nun für immer unausgesprochen bleiben müssen. „Down With the Shine“, eine astreine Hymne, handelt davon, wie sinnlos es doch ist, sich dem Fluss der Zeit und dem eigenen Älterwerden widersetzen zu wollen. Im Fall von „A Father’s First Spring“ sind es schließlich Vaterfreuden und die Erkenntnis, wie sich alles verändert, wenn man Kinder bekommt.
„Was eigene Erfahrungen angeht, haben wir noch nie so viel zu erzählen gehabt wie dieses Mal. Wahrscheinlich muss das auch so sein, schließlich waren wir ja auch noch nie so alt wie heute“, sagt Seth und muss lachen. „Auf jeden Fall fühlt es sich wie unser bis dato reifstes Werk an, und ich würde sogar sagen, es ist sehr viel bedeutungsvoller und klarer auf ein Ziel ausgerichtet.“
„I and Love and You war auf jeden Fall ein Junge-Typen-Album, weil wir nun mal jüngere Männer waren zu der Zeit“, meint auch Bassist Crawford. „Wir waren gerade erst verheiratet und hatten gerade erst Kinder bekommen. Das neue Album klingt dagegen schon deshalb erwachsener, weil wir als Menschen an einem anderen Punkt im Leben stehen. Dinge wie die eigene Sterblichkeit sehen wir heute so nah und deutlich wie nie zuvor.“
„Viele der neuen Songs sind wirklich ganz nah am eigenen Leben angesiedelt, wir tragen also quasi das Herz auf der Zunge“, fügt Scott hinzu. „Sie geben schon sehr viel von uns und unserer Gefühlswelt preis. Fiktionale Welten sind einfach nicht so unser Ding, und so ist das alles auch immer in irgendeiner Form im eigenen Leben und in tatsächlichen Begebenheiten verankert.“
Eine solche Begebenheit, von der die Welt der Avetts komplett auf aus den Angeln gehoben werden sollte, ereignete sich im August 2011, als die Band eigentlich gerade dabei war, The Carpenter den letzten Schliff zu verpassen. Sie stiegen aus dem Flieger in Charlotte, als Crawford davon erfuhr, dass seine 18 Monate alte Tochter Hallie mit Krämpfen ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Scott, Seth und Live-Cellist Joe Kwon begleiteten ihn daraufhin zu seiner Tochter, an deren Krankenbett Crawford und seine Frau Melanie eine schockierende Nachricht erwartete: Ihre Tochter sei an einer seltenen und aggressiven Form von Hirnkrebs erkrankt. „Mich hat das wie ein Erdbeben getroffen“, erinnert sich Seth. Die Neuigkeit von Hallies Erkrankung hatte alles in ein neues Licht gerückt und ihnen schmerzhaft ins Gedächtnis gerufen, was wirklich zählt im Leben.
„Die Jungs waren einfach immer da für uns. Schichtweise. Alle zusammen. Sie waren da“, erinnert sich Crawford weiterhin, und seine Stimme zittert heute noch. „Danach weiß man einfach, wer die wahren Freunde sind. Und ich habe daran auch erkannt, wie besonders unsere Beziehung ist – und dass sie mich auch wirklich als ihren Bruder betrachten.“
Die guten Nachrichten lauten, dass Hallies Therapie inzwischen anschlägt, ein Jahr später, und sie weiterhin wacker gegen die Krankheit kämpft. Bob und Melanie genießen jeden einzelnen Tag mit ihr, und ihre Band, mehr Bruderschaft als Business, ist so eng wie nie zuvor.
„Seth, Bob und ich sind heute viel eingeschworener, viel mehr eine Einheit“, sagt Scott. „Und ich meine das gar nicht mal nur als Musiker, sondern auch einfach als Männer, die ganz ähnlich ticken und denken und die Dinge ähnlich sehen. Dieses neue Album ist das Produkt von drei Männern, die ein geteiltes Lebensgefühl verbindet.“
Crawford sieht das Ganze sogar noch persönlicher: „Wenn ich mir diese Stücke heute anhöre und dann bedenke, was wir da alles durchgemacht haben, sehe ich das Album sogar auf einem komplett anderen Level. All diese Worte, und all diese Songs, diese ganzen Gefühle – das alles hat wirklich Gewicht. Weil es echt ist.“