Stress, zweiter Teil. Zwei Jahre nach seinem ersten Soloalbum «Billy Bear», von dem 19 000 Exemplare abgesetzt wurden, meldet sich das Enfant terrible des Schweizer Rap mit einer neuen Scheibe zurück: «25.07.03». Ein Album voller Überraschungen. Da trifft ungeschliffener und aufgeweckter Rap à la «Billy Bear» auf Folkballaden in bester Südstaatenmanier. Atlanta-Crunk, Soul und Blues widerhallen an den Riddims der jamaikanischen Soundsystems. Für sein sechstes Werk (vier mit seiner Gruppe Double Pact) in seiner zehnjährigen Karriere, setzt der 27-jährige Lausanner Rapper ganz auf musikalische Öffnung und Eklektizismus. Weil der Hip Hop umfangreicher ist als das Repertoire einer Rhythmbox. Und weil die Musik keine Grenzen kennt.
Mit «Ténèbres», dem Symbol dieser Neuorientierung, stimmt Stress ein in ein düsteres vom Lausanner Komponisten Mark Angelil realisierten Pop-Rock-Klagelied. Ein bedeutungsschwerer Titel, der einen traurigen und melancholischen Blick auf heruntergekommene Liebesbeziehungen wirft. Ein Thema, das auf dem Album in einer Hip-Hop-Version mit dem ergreifenden «Chrysanthèmes pour Mme Bear» noch einmal aufgegriffen wird: ein intimes Bekenntnis des Autors zu einer vergangenen Beziehung. Doch die musikalische Veränderung vollzieht sich noch stärker auf «Partir d’Ici» oder «Ma Génération», auf denen Stress vom Reim zum Gesang wechselt und eine Band mit Lausanner Musikern, unter anderen W (Zorg), im Rücken hat. Die Tracks erinnern mit ihren Folkgitarren an Everlast, den Ex-Rapper der Gruppe House Of Pain: Stress in der Manier eines Rock-Blues-Crooners. Noch flotter: «Libéré», das mit seinen Beats an Outkasts «Hey Ya» erinnert. Zusammen mit «Oh Docteur!» beweist Stress, dass er mehrere Pfeile im Köcher hat und dass er seinen Stil durchsetzt – in welchem musikalischen Genre er auch immer wildert.
Trotzdem ist auf «25.07.03» noch genügend Rap zu hören. Schwer und kraftvoll kommt er daher in «Droit du cœur», das vom jungen Lausanner Produzenten GR Beats produziert wurde. «Pose pas de Questions» featured keine Geringeren als Shurik’N (IAM) und Saïd. In «Dans ma Ville» ist Nega (Double Pact) zu hören. Und «Game» ist Hardcore par excellence – produziert von Yvan, der für fast alle Tracks des Albums verantwortlich zeichnet und dem Sound seinen Stempel aufdrückt.
Schonungslos greift Stress die käuflichen Rapper und die Hip-Hop-Opportunisten an: «Wir können uns nur selber an der Nase nehmen / zuviele Faschisten im Rap, seht nur wohin uns das führt / unsere Mittelmässigkeit schlägt uns ins Gesicht / und unsere Gier zieht nicht an uns vorbei.» Entrüstet, empört und aufgebracht zeigt sich Stress. Und engagiert: «Fuck Blocher» ist ein Manifest gegen das starke Aufkommen der SVP, eine Gemeinschaftsproduktion mit den beiden Deutschschweizer Rappern Greis (BE) und Bligg (ZH): «Genug mit den Höflichkeiten gegenüber der Politik / fertig mit der Phrasendrescherei, meine Herren, auf die Gefahr hin zu polemisieren / Ich schäme mich für die Abstimmungsresultate vom September / die Unschuld ist der SVP und ihrer Propaganda gewichen.»
Der Name Stress steht aber auch für Party-Rap, den sogenannten Saturday Night Fever Rap. Sein Alter Ego Billy Bear, das die freche Seite repräsentiert, ist zwar wenig präsent auf diesem neuen Album, doch wenn es erscheint, dann schonungslos. Etwa mit Hilfe eines Cembalos auf «Dur, Dur d’Etre Billy» oder beissend bissig im stratosphärischen «L’Odysée dans l’Espace», einem Chanson mit verschiedenen Tempi, das eine nächtliche Eskapade in einem Bordell beschreibt… Noch eine Spur experimenteller und in der Tradition jamaikanischer Dancehalls klingt Stress in «Pull Up» in Begleitung des Lausanners Phil’Eas (Black Diamond). Und für «Animal Juice» richtet der Waadtländer die Zeiger nach Atlanta und braut ein Crunk-Delirium nach reinster Südstaaten-Art zusammen.
Und last but not least zeigt sich Stress auch von der introvertierten Seite. Er hat seiner spitzen Feder ein paar Bekenntnisse entlockt. So rappt er etwa in «Des Fois»: «Manchmal wird mir alles zuviel / manchmal möchte ich, dass alles stehenbleibt / manchmal rufe ich und schreie ich, aber niemand erhört mich / also schreibe ich und schreibe ich, um meinen Schmerz rauszulassen / und ich bete und bitte, dass ich darüber lachen kann und nochmals lachen kann / … / manchmal möchte ich sterben, möchte ich ein Time Out / oftmals bete ich, damit der Himmel näher kommt.» Bekenntnisse auch in «Ces Choses en Moi», einem ungeschliffenen Track in der Art des Wu-Tang Clan, in dem Stress mit dem lieben Gott abrechnet: «Warum soll ich mich vor einem Arschloch fürchten, das ich noch nie mit eigenen Augen gesehen habe, ich fürchte die Menschen, Mann, aber sicher nicht den lieben Gott…».
Aufgenommen in Lausanne mit Yvan, seinem langjährigen Produzenten und Freund, zeigt «25.07.03» sämtliche Facetten und die aussergewöhnliche Vielseitigkeit von Stress. Ein entschlossenes Hip-Hop-Statement, das sich stilistisch nach allen Seiten offen zeigt. Typisch Stress. Einer, der über die Grenzen und Horizonte hinausschaut. In Richtung einer Zukunft, die vielleicht nicht einmal mehr so fern ist…