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Stephan Micus – Klangabenteuer eines musikalischen Zugvogels

Stephan Micus
Simon Broughton / ECM Records
11.06.2021
Obwohl die Straße da ist,
Läuft das Kind durch den Schnee.
Murakami Kijo (1865–1938)
Das japanische Haiku, das Stephan Micus seinem neuen Album “Winter’s End” vorangestellt hat, wirkt wie eine Metapher für seine Musik. Beim Gedanken an die vielen Stunden Arbeit, die er in dieses Soloalbum steckte, als er die Musik in seinem Studio mit den verschiedensten Instrumenten Schicht für Schicht aufbaute, muss Micus schmunzeln. “Für einen Musiker oder Künstler generell ist es sehr wichtig, sich seine kindliche Natur zu bewahren”, sagt er. “Natürlich macht es mehr Spaß, im tiefen Schnee zu laufen als auf einer asphaltierten Straße. Und das versuche ich auch im täglichen Leben zu berücksichtigen.”
Selten zuvor hat Stephan Micus in seiner umfangreichen Diskographie (“Winter’s End” ist sein 24. Soloalbum für ECM) eine solche Bandbreite an Instrumenten eingesetzt wie hier. Es sind elf an der Zahl aus zehn Ländern: Mosambik, Gambia, Zentralafrika, Ägypten, Japan, Bali, Xinjiang, Tibet, Peru und den USA. Vor allem aber befinden sich darunter zwei Instrumente, die er noch nie zuvor für eine Aufnahme benutzt hat. Das eine hat er erst vor kurzem aus Mosambik erhalten, das andere wartet schon seit 40 Jahren im Regal darauf, endlich an die Reihe zu kommen.
Es ist das Chikulo, mit dem er “Winter’s End” beginnt und das den Charakter des ganzen Albums bestimmt, da es gleich in sieben der zwölf Nummern zu hören ist. Zu den musikalischen Reichtümern Mosambiks gehören die großen Timbila-Bands des Chopi-Volkes. Das Chikulo ist ein Xylophon mit Holzstäben und darunter hängenden Kalebassen als Resonatoren. Ein Timbila-Orchester hat mehre Instrumente unterschiedlicher Größen. Weil Micus es vorzieht, “im Schnee zu laufen”, hat er das Bassinstrument mit nur vier Tönen ausgewählt, das dem Ensemble eine surrende rhythmische Unterstützung gibt.
“Ich hatte von den Timbila-Orchestern gehört und einige Instrumente gesehen. Und da ich Mosambik noch nie besucht hatte, wollte ich unbedingt dorthin. Die höher gestimmten Instrumente erfordern eine ziemliche Virtuosität. Das würde ich in diesem Leben nicht mehr meistern können. Aber mich reizen auch tief gestimmte Instrumente. Und als man mir das Chikulo zeigte, hatte ich das Gefühl, dass es mir viele Möglichkeiten eröffnen würde.” Tatsächlich wird das Chikulo heute in Timbila-Bands kaum noch gespielt, weil es so groß und schwer zu transportieren ist. Micus selbst hat nie erlebt, dass es in einem Orchester zum Einsatz kam. Es wurde ihm lediglich in einem Museum vorgeführt. Sein eigenes Chikulo gab er bei dem Timbila-Musiker und Instrumentenbauer Eduardo Durão vor Ort in Auftrag.
Das Album beginnt zwar mit dem hölzernen und surrenden Klang des Chikulo, aber die meiste Zeit spielt Micus das Instrument ohne die resonierenden Kalebassen, um einen reineren Klang zu erzeugen. Neben drei Chikulos ist im Opener “Autumn Hymn” auch eine japanische Nohkan-Flöte zu hören, die traditionell bei Aufführungen in Nō-Theatern verwendet wird. Während das Chikulo einen erdigen Klang hat, wirkt die Nohkan geradezu himmlisch. So ergibt sich hier eine natürliche Harmonie zwischen Erde und Himmel.
Das andere Instrument, das Stephan Micus zum ersten Mal einsetzt, ist eine Zungentrommel. Er hat sie vor 40 Jahren selbst nach Vorbildern aus Zentralafrika gebaut, indem er zungenförmige Stücke in den Deckel einer Holzkiste sägte. “Ich habe sie damals einige Male bei Konzerten gespielt und eine einzelne Gesangslinie dazu gesungen. Aber ich das Ergebnis hat mich nie ganz zufriedengestellt. Doch von dem Moment an, als ich das Instrument mit dem Chikulo kombinierte und weitere Stimmen hinzufügte, kamen mir die beiden Stücke für die Zungentrommel endlich komplett vor. Ich besitze Instrumente oft über einen längeren Zeitraum, bevor es mir gelingt, sie in einer Komposition unterzubringen – und wenn eines von ihnen nach 40 Jahren endlich zum Zuge kommt, ist das eine sehr schöne Sache.”  In den Stücken “The Longing Of The Migrant Birds” und “Sun Dance” lassen die (in einer Fantasiesprache gesungenen) Stimmen im Zusammenspiel mit den perkussiven Klängen der Zungentrommel und des Chikulo etwas von der Weite der Savanne erahnen.
“Das Schöne an Musik ist für mich, dass sie jenseits von Worten und jeglicher verbaler Botschaften existiert”, sagt Micus. Aber nachdem er das Album mit seinen anderen Texturen von gestrichenen und gezupften Saiteninstrumenten, Daumenklavier, Flöten und Becken geschaffen hatte, gab er ihm durch die Songtitel eine Art Narrative.
“Ich hatte diese Vorstellung von Zugvögeln, die sich, wenn der Winter kommt, auf eine Reise von Europa nach Afrika begeben. Im dritten Stück verspüre ich eine Art Sehnsucht zu reisen und mit dem vierten Stück, ‘Baobab Dance', sind wir in Afrika angekommen.” Wo wir uns letztendlich befinden, ist unklar. Wie es bei Micus' Musik so oft der Fall ist, besitzt auch “Winter’s End” eine symmetrische Struktur. Der letzte Titel, “Winter Hymn”, könnte eine Rückkehr nach Europa andeuten. Aber einen Winter gibt es natürlich auch in Afrika.
Immer wieder bemerkenswert ist bei Stephan Micus die Art und Weise, wie er die Klänge der Welt als Inspiration nutzt und sie in einzigartigen und nie zuvor erlebten Kombinationen zusammenbringt. “Instrumente zum ersten Mal miteinander zu kombinieren, ist faszinierend. Es ist, als würde man an Orte gehen, an denen noch niemand war. Überraschenderweise kann man diese Instrumente, die aus der ganzen Welt stammen, nehmen und sie in Harmonie zusammen erklingen lassen. Das ist eine wunderbare Botschaft, während wir Menschen leider noch nicht an diesem Punkt angekommen sind.”

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