“Sie hat etwas, was die Leute nicht begreifen”
Sophie Hungers musikalischer Werdegang liest sich wie ein modernes Märchen. Noch vor zwei Jahren war die 1983 geborene Schweizerin selbst in ihrer Heimat ein vollkommen unbeschriebenes Blatt. Dann veröffentlichte sie ihr in Eigenregie produziertes Debütalbum “Sketches On Sea” und verkaufte davon, ohne die Promotionsmaschine einer großen Schallplattenfirma, einige Tausend Exemplare und wird laut Journalie „zum bestgehüteten Geheimnis der Schweizer Musikszene“. Doch nicht nur beim Schweizer Publikum weckte die Widerspenstige mit ihrer Musik Interesse: schon bald erhielt sie von namhaften Kollegen wie dem Jazz-Trompeters Erik Truffaz, der Industrial-Band The Young Gods und dem Chansonnier Stephan Eicher Einladungen internationale Bühnen mit ihnen zu teilen. Schließlich wird ihr, nach einem atemberaubenden Auftritt am EuroVox 2008-Festival begleitet von standing ovations, auch von der renommierten französischen Tageszeitung Libération prophezeit, dass sie “nicht lange das bestgehütete Geheimnis der Schweiz bleiben wird”.
Hunger selbst bleibt in Ihrer Heimat trotz medialem Dauerinteresse unfassbar, unberechenbar besonders den Medien gegenüber. Distanziert sich unbeeindruckt abwechslungsweise von Funk und Fernsehen, um dann mit sonderbarer Präzision in Zeitungsinterviews sprichwörtlich aufzutauchen: „Bin ich mehr mich selber, wenn ich zu Hause ein Ragusa esse, als wenn ich auf der Bühne ein E spiele?“ Ihre außergewöhnliche Konzertpräsenz ist es schlussendlich, die ihr ohne Unterstützung der Musikindustrie zum Durchbruch verhilft. So wurde das erste Studioalbum „Monday’s Ghost“, das im Oktober 08 dort erschien, mit immensen Erwartungen ersehnt. Die Erwartungen wurden erfüllt: “Monday’s Ghost” katapultierte sich sogleich auf den ersten Rang der Album-Charts und ließ dabei gestandene Acts wie Bushido, die Söhne Mannheims und Metallica im Windschatten stehen.
Doch zurück zu den Anfängen. Als Tochter eines Diplomaten kam Emilie Jeanne-Sophie Welti Hunger am 31. März 1983 in Bern zur Welt, verbrachte einen guten Teil ihrer Kindheit aber in London und Bonn. Mit neun Jahren erhielt sie für kurze Zeit Klavierstunden, die aber keine besonderen Früchte trugen und schon bald wieder aufgegeben wurden. Zur Musik fand sie erst mit 19 Jahren wieder zurück, als sie als Sängerin bei der Rockband Fisher einstieg. „Mein Respekt vor Musik, vor künstlerischem Ausdruck war sehr groß als Teenager, ich war verklemmt und distanziert. Erst als ich sozusagen mein Bewusstsein verlor, begannen diese Dinge sich zu entfalten. Ich war 23, es war eigenartig, aber alles fiel aus mir heraus. Ich hatte damals das Gefühl keine Eigenschaften zu haben, umso mehr konnte ich alles erfinden“. Schon ein paar Monate später hatte die Songschreiberin genügend Material beisammen, um in den eigenen vier Wänden binnen weniger Tage ihr charmant ungeschliffen klingendes erstes Album aufzunehmen: “Sketches On Sea”. Das Album gab einen Einblick in Sophies musikalische Welt: eine Welt ohne stilistische Grenzen, auf dem sie sich, an Gitarre oder Klavier begleitend, verspielt und unverblümt zwischen Jazz, Folk und Rockeinflüssen bewegt. Auch kommt ihre unterschwellige Ironie zum Ausdruck, in dem sie einen ganzen Track lang mit Stimmenimitation mehrer Figuren eine Parodie zu Ihrem Namen Hunger entwirft.
“Ich verstehe nicht viel von Musik”, offenbarte Sophie Hunger vor kurzem kokett einer Journalistin des Schweizer Tagblatts. Dieser Unbedarftheit ist es wohl auch zu verdanken, dass “Monday’s Ghost”, obwohl in einem Studio produziert, immer noch etwas von der Ungeschliffenheit und Direktheit von “Sketches On Sea” hat. Entstanden ist “Monday’s Ghost” innerhalb von zwei Wochen im Studio du Flon in Lausanne sowie im Brüsseler ICP-Studio. Die Produktion lag diesmal in den Händen von Marcello Giuliani, der bereits mit Größen wie Étienne Daho, Jane Birkin, Henri Salvador und Erik Truffaz zusammenarbeitete. Begleiten ließ sich Sophie nicht von einer ad hoc zusammenwürfelten Studioband, sondern von den Musikern, die derzeit ihr festes Ensemble bilden. “Um meine Musik zu machen, brauche ich Leute, die mir vertrauen. Die Musiker, die mich auf diesem Album begleiten, treten auch immer mit mir auf: Der Flötist und Alleskönner Christian Prader und der Posaunist Michael Flury.” Schlagzeuger Julian Sartorius und Bassist Balz Bachmann komplettieren die Band mittlerweile live. Für die Umsetzung von Sophies musikalischen Vorstellungen sind diese Musiker bedeutend. Hunger selbst spielt auf dem Album Piano und Gitarre.
Die Songs von “Monday’s Ghost” erzählen keine Geschichten im herkömmlichen Sinne, sondern reflektieren Impressionen. So drehen sich beispielsweise die Songs “Shape”, “Drain Pipes” und “Teenage Spirit” um die Idee von Form und Inhalt. “Mich fasziniert der Impuls. Ob man nun Einfamilienhäuser oder Strassen baut oder mit Worten Sätze bildet, es läuft immer auf dasselbe hinaus: ein Vakuum zu füllen, bzw. das Chaos zu organisieren. Wenn man sich daran macht, einen Song zu schreiben, geht man auch so vor: man hat einen leeren Raum oder eine formlose Masse von Ideen, Emotionen und Worten. Und daraus erfindet man etwas um etwas zu haben.”
Mit demselben Scharfsinn betrachtet Sophie Hunger sich selbst und alles, was sie umgibt. In einem Stück mit dem brisanten Titel “The Boat Is Full” nimmt Sophie auch ihre Heimat Schweiz kritisch unter die Lupe: “Die Phrase ‘Das Boot ist voll’ wurde von einem Politiker verwendet, um die Schließung der Grenzen für Immigranten zu rechtfertigen”, erläutert Sophie Hunger. “Was mir als eine völlig absurde Formulierung erschien in Anbetracht unseres Wohlstandes. Ich bedaure unsere politische Engstirnigkeit, das damit verbundene Fehlen an Offenheit gegenüber dem Rest der Welt und die verpasste Chance an ihr teilzunehmen. Zugleich jedoch, fühle ich mich mitverantwortlich für mein Land und die Spuren die zu hinterlassen wir uns entschließen. Wäre es nicht so, würde ich ein solches Lied nicht schreiben.“
Was Sophie Hunger aus dem anschwellenden Meer der zeitgenössischen Songschreiberinnen hervorhebt, ist zum Beispiel die Kombination von Integrität und Reife, die sie auf “Monday’s Ghost” beweist. Deshalb greifen Vergleiche mit vielen anderen Repräsentantinnen dieses heteromorphen Genres auch ins Leere: Sophie Hunger ist keine neue Norah Jones und will es auch gar nicht sein. Sophie Hunger hat ihre eigene Nische gefunden und trifft mit ihrer Musik, wie bejubelte Konzerte in England und Frankreich schon zeigten, offenbar nicht nur den Nerv der Schweizer Hörer/innen. Oder wie Das Magazin erklärt: „Sie hat etwas, was die Leute nicht begreifen“.