Mit Uncle Tupelo führten die beiden Freunde Jay Farrar und Jeff Tweedy Anfang der 90er Jahre die alternative Country-Musik-Bewegung an, bis sich 1994 Differenzen zwischen ihnen auftaten, die dazu führten, daß sie danach getrennte Wege einschlugen. Während Jeff Tweedy seine Karriere mit anderen Mitgliedern von Uncle Tupelo unter dem neuen Bandnamen Wilco fortsetzte, verfolgte Jay Farrar seine musikalischen Visionen mit seiner neuen Band Son Volt weiter, die in den verbleibenden 90ern drei Alben einspielte: “Trace” (1995), “Straightaways” (1997) und “Wide Swing Tremolo” (1998). Dann legte Farrar Son Volt für längere Zeit auf Eis, um die drei Soloalben “Sebastopol” (2001), “Terroir Blues” (2003) und “Stone, Steel & Bright Lights” (2004) aufzunehmen. Irgendwann aber vermißte Farrar doch wieder den freien Ideenaustausch mit ständigen Partnern und die Überraschungen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn man mit einer Gruppe befreundeter Musiker zusammenarbeitet. Und so reaktivierte er 2004 Son Volt mit einer neuen Besetzung.
“Soloalben zu machen kann erfüllend sein, aber man wird sich auch schnell bewußt, wo die Grenzen der eigenen Fähigkeiten liegen”, gesteht Farrar. “Eine Band hat dadurch, daß jeder andere Erfahrungen einbringt und jeder alle anderen Anstöße gibt, eine ganz andere Dynamik. Diese Anstöße führen einen oft ins Unbekannte, und das ist ein guter Ort, um Musik zu machen.”
“American Central Dust” ist nach “Okemah And The Melody Of Riot” (2005) und “The Search” (2007) Son Volts drittes Album seit der Neuformierung. Das neue Album ist ein Musterexemplar für Son Volts Banddynamik und auch für die rigorose Ästethik, die Farrars gesamtes Plattenœuvre auszeichnet und bei dem klassische und zeitgenössische Elemente in atemberaubende neue Formen gegossen werden.
Im klassischen Sinne setzt dieses Album auf erfrischende Art die Tradition von den Byrds, den Flying Burrito Brothers, Little Feat (in der “Sailin’ Shoes”-Phase), den Rolling Stones von “Exile On Main Street” und den frühen Aufnahmen R.E.M.s fort. “Wir wollten zu fundamentaleren Themen zurückkehren, sowohl lyrisch als auch musikalisch, um eine stärker fokussierte Platte zu machen”, erläutert Farrar. “Bei ‘The Search’ ging es uns mehr darum, die Bandbreite der Songstrukturen und der Instrumentation zu erweitern. Diesmal strebte ich eine gewisse Einfachheit an, sogar beim Aufbau der Songs. Das habe ich wahrscheinlich dadurch gelernt, daß ich mir Tom Waits anhörte. Bei ihm kann Einfachheit eine Tugend sein.”
“Wie man schon bei den vorherigen Alben feststellen konnte, habe ich ich die Angewohnheit, den täglichen Nachrichten große Aufmerksamkeit zu widmen”, fährt Farrar fort. “Und das eine oder andere findet dann eben auch Eingang in meine Texte und meine Musik.” Das Material für “American Central Dust” schrieb er im Sommer 2008, als immer klarer wurde, daß die Finanzkrise Amerikas Mitte zutiefst erschüttern würde. Diese zwölf Songs handeln von der Beklommenheit der Leute in der Krise, als das ehemals Vertraute immer surrealer wurde und sich böseste Vorahnungen bestätigten. “American Central Dust” ist ein episches Klagelied für das sogenannte Herzland der Vereinigsten Staaten. Die Songs sind von leicht wiedererkennbaren Charakteren bevölkert, von denen die optimistischsten vor dem Hintergrund von rostigen Straßenschildern und verwaisten Fabriken nach Liebe suchen. In dieser Welt aus “Grau- und Blautönen”, wie Farrar es schreibt, greifen die Leute, während sie kämpfen, um über die Runden zu kommen, verzweifelt nach all dem, was vom “amerikanischen Traum” übriggeblieben und für sie noch erreichbar ist.
Diese Songs sind moderne gesungene Äquivalente zu den Fotografien von Walker Evans, Robert Frank und William Eggleston: scharf beobachtete, aber mitleidvolle Bilder von den vielsagenden Details des Alltagslebens in harten Zeiten. Einige von ihnen erweisen sich als psychologische Reiseberichte, da Farrar Stimmungen in Bewegung einfängt. “Ich denke, daß ich Ideen für meine Songs sammle, wenn ich unterwegs bin”, meint Farrar. “Aber ich bin mir auch immer bewußt, daß die Leute sich meine Songs unterwegs anhören werden. Beides ist also miteinander verknüpft.”
Zu Seite standen Farrar bei den Aufnahmen wieder Schlagzeuger Dave Bryson (der seit Farrars drittem, 2003 live aufgenommenen Soloalbum “Stone, Steel & Bright Lights” fest zur Crew gehört) und Bassist Andrew Duplantis (der bei der Einspielung von “Okemah And The Melody Of Riot” zu Son Volt stieß). Erstmals dabei sind Gitarrist Chris Masterson (den Farrar vor ein paar Jahren entdeckte, als jener mit Jack Ingram spielte) und Mark Spencer (vormals Blood Oranges), der hier abwechselnd an Keyboards, Pedal-Steel- und Lap-Steel-Gitarre zu hören ist. Bis auf Bryson treten alle auch als Background-Sänger in Erscheinung. “Die Band spielte in dieser Besetzung schon ungefähr acht Monate zusammen, als wir im letzten Oktober die Aufnahmen machten”, berichtet Farrar. Eine weitere instrumentale Dimension steuerte zudem die Violinistin und Violaspielerin Eleanor Whitmore bei.
Die Aufnahmen wurden live in Farrars eigenem Studio in St. Louis gemacht, das mit Equipment vollgestopft ist, das Museumswert hat. Flott hauchten die Musiker den Songs Leben ein und entwickelten sie während der Aufnahmen weiter. Während gewisse Stücke eine gedämpfte Intimität ausstrahlen, ließen sich Masterson und Spencer bei anderen Liedern zu flammenden Interaktionen hinreißen, wie man sie bei solchen Folk-Rock- und Country-Rock-Sessions normalerweise nicht antrifft.
Als die Aufnahme komplett im Kasten war, überließ Farrar die analogen Bänder dem Produzenten Joe Henry (der selber Songwriter, Sänger sowie Gitarrist ist und u.a. schon Solomon Burke, Betty LaVette, Ani DiFranco, Me’Shell NdegéOcello und Elvis Costello & Allen Toussaint produzierte) und Toningenieur Ryan Freeland, die sich zusammen um die Abmischung kümmerten. “Mir gefiel Joes Produktion von Solomon Burkes Platte ‘Don’t Give Up On Me’ und allem voran seine Detailliebe, die sich zum Beispiel beim Re-Amping des Gesangs und den strategisch plazierten Effekten zeigte”, sagt Farrar. Die beiden lernten sich in den frühen 90ern kennen, als Uncle Tupelo gemeinsam mit Henrys Band tourte. Die Verbindung zwischen ihnen verstärkte sich, als Eric Heywood und Jim Boquist, die bei der gemeinsamen Tour in Joe Henrys Band gespielt hatten, Mitglieder der Urbesetzung von Son Volt wurden.
In weniger als drei Minuten faßt die Eröffnungsnummer “Dynamite” die Themen des Albums, in denen Liebe durch Risse im Asphalt sprießt, und seine Klänge – förmlich, straff und zeitlos – zusammen. “Plastic grocery bags fly from the trees/Proud symbols of cavalier progress”, singt Farrar im fesselnden “Down To The Wire” über einen martialischen Beat und den Klang sich scheinbar duellierender Gitarren (die eine mit Tremolo, die andere bis zum Maximum verzerrt). Was da wie eine Gitarre mit Fuzzbox klingt ist tatsächlich Spencers Wurlitzer, das an einen Gitarrenverstärker angeschlossen wurde. Bei “Dust And Daylight” wagt eine Fidel einen Two-Step mit einer achtsaitigen Fender-Pedal-Steel-Gitarre – genau solch eine verwendete Sneaky Pete Kleinow übrigens auch auf den Platten der Flying Burrito Brothers; und Spencer spielt seinen Part hier mit ähnlich leidenschaftlicher Beseeltheit wie einst der 2007 gestorbene Kleinow.
Das Stück “Sultana”, das sich der Sprache des traditionellen Folk bedient, erzählt die tragische Geschichte von der schlimmsten amerikanischen Schifffahrtskatastrophe, die 1865 auf dem Mississippi River etwas nördlich von Memphis ihren Verlauf nahm. “The Titanic of the Mississippi was the Sultana”, singt Farrar, seinen ausführlichen Bericht vom Untergangs dieses Schiffs resümierend. Der große Fluß spielt auch in “Pushed Too Far” eine verbindende Rolle. Das Stück handelt von zwei Städten: von New Orleans (wo er in den 90ern eine Zeitlang lebte) und Farrars Heimatstadt St. Louis. In dem Song gibt es Anspielungen auf den N’awlins-Bluessänger Snooks Eaglin und die aus St. Louis stammende Rock’n’Roll-Legende Chuck Berry, die dort – mittlerweile 82 Jahre alt! – immer noch auftritt.
In “When The Wheels Don’t Move” ahmt eine Fuzztone-Gitarre das Geräusch eines schleifenden Schwungrads nach, während Farrar die Trümmer eines ehemals florierenden Industriezweigs, der “Hybris und Gier” zum Opfer fiel, anstarrt und fragt: “Who makes the decision/To feed the tanks and not the mouths/When the wheels don’t move?” “Diese Nummer entstand letztes Jahr, als die Benzinpreise in die Höhe schossen”, erklärt Farrar. “Ich mußte damals auch an Bands denken, die gerade erst ihre Karriere beginnen und fragte mich, wie sie es schaffen sollen, überhaupt noch auf eine Tournee zu gehen. Sie nehmen bei einem Gig vielleicht 100 Dollar ein, und es kostet sie mehr, von einer Stadt in die nächste zu fahren.”
Gefragt, ob irgendeiner dieser Songs ein soziopolitischer Kommentar sein soll, antwortet Farrar: “Indirekt, aber ich denke, diese Platte ist auch ein kleines bißchen positiver als die vorangegangenen. Ich habe mich neulich mit einem Freund über die letzten acht Jahre unterhalten. Ich habe sie erlebt wie jemand, der im Auto eines waghalsigen Fahrers auf der Rückbank sitzt – man ist die ganze Zeit nervös und schreit gelegentlich verschreckt ‘Nein!’ auf. Aber zu einem gewissen Grad sind einige dieser neuen Songs auch introspektiver.”
Der introspektivste von allen ist “Cocaine And Ashes”, eine großartige, einsame Ballade, die klingt, als sei sie ein Stück der zweiten Seite von “Exile On Main Street”. Der Song beginnt mit den Zeilen “I’ve had strychnine they thought I was dead/I snorted my father and I’m still alive.” Farrar räumt ein, daß ihn zu diesem Stück die Nachrichtenmeldungen inspirierten, in denen es hieß, Keith Richards habe behauptet, daß er die Asche seines verstorbenen Vaters mit Kokain vermischt und dann gesnifft habe. Das Ganze war freilich nur ein etwas derber Scherz des Rolling-Stone-Gitarristen gewesen. “Keiths eigenwilliger Liebesbeweis für seinen verstorbenen Vater hat mich damals wirklich irgendwie gerührt”, sagt Farrar. “Das ist Keiths Art, die Dinge zu tun; mit dem Einschmeißen von Drogen kennt er sich aus. Mein Stück soll letztendlich ein empathischer Song sein, und ich hoffe, daß das auch rüberkommt.”
Selten gelingt es einem musikalischen Werk den Zeitgeist eines historischen Moments so kraftvoll einzufangen und gleichzeitig die Traditionen des Rock’n’Roll mit solch knochiger Anmut zu ehren. Mit “American Central Dust” haben Jay Farrar und Son Volt einen ganz großen Wurf gemacht.