Als Sister Cristina vor einigen Monaten ihren ersten Auftritt in der italienischen Version von „The Voice“ absolvierte, musste sie erst mal erklären, weshalb sie kein so elegantes Kleid wie ihre Mitstreiterinnen trug: „Ich bin nun mal eine echte Nonne“, berichtete sie den etwas verwirrt dreinschauenden Coaches. Derartig perplex guckte auch Raffaella Carrà aus der Wäsche, die während der allerersten Performance von Cristina als letzte ihren Stuhl in Bewegung gesetzt hatte – dabei war bereits diese Interpretation von „No One“ (Alicia Keys) mehr als nur ein Hingucker: Komplett mit Ordenskleid, Haube und einem Kruzifix um den Hals, tanzte sich die 25-jährige Sizilianerin die Seele aus dem Leib, während sie den R&B-Hit zum Besten gab. Das Publikum war sofort außer Kontrolle. Die Zuschauer daheim genauso: Nach nur sieben Tagen verzeichnete der Clip von ihrem Keys-Cover – den Alicia Keys übrigens höchstpersönlich mit den Worten „pure energy“ auf Twitter abfeierte – bereits über 30 Millionen Views bei YouTube. In den Episoden danach teilte sich Cristina das Mikrofon mit Ricky Martin und Kylie Minogue, und nur zwei Monate nach jenem ersten Auftritt war es ihre Version von „Flashdance… What A Feeling“, die ihr 62% der Stimmen im Finale sichern sollte. Nachdem Cristina den Preis in Empfang genommen hatte, sagte sie erst mal ein Vaterunser auf. Noch ein paar Wochen später hatte sie bereits einen Vertrag mit Universal unterschrieben, wo am 14. November 2014 ihr gleichnamiges Debütalbum erscheinen wird.
Gewöhnlich, das gibt sie auch selbst zu, ist die Geschichte von Cristina gewiss nicht. Und es war auch kein einfacher Weg bis zu diesem Punkt, wie sie sagt: Das Bedürfnis, der Drang, Musik zu machen, zu singen, begleitet sie laut eigener Aussage schon so lange sie denken kann. Und diesen Drang mit der Berufung zu einem Leben im Zeichen ihres Glauben zu vereinen, habe ihr viele Konflikte und Krisen bereitet – Krisen, die sie erst vor Kurzem habe vollständig überwinden können: „Für mich sind das Singen und mein Glaube ein und dasselbe“, berichtet sie, während sie im Kloster in Mailand sitzt, das der Ursulinen-Gemeinschaft angehört; sie ist dort eine Novizin und singt sonst im Kirchenchor. „Aber es gab da diesen Moment, ganz zu Beginn meines Klosterlebens, an dem ich mich bereits intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt habe. Ich hatte mich dafür entschieden, mit Gott zu leben – und hatte dafür meine Musik auf Eis gelegt. Also musste ich mir die Frage stellen: Kann man das Singen und seinen Glauben miteinander vereinen? Und das ist eine große Frage, darauf eine Antwort zu finden war alles andere als leicht. Meine Familie hat zum Beispiel gar nichts davon gehalten. Sonntags ging man bei uns in die Kirche; daran war auch nichts zu rütteln. Ich musste also gewissermaßen meinen Hang zum Singen reinigen, um diese Leidenschaft dann mit der Entscheidung für ein Leben im Glauben vereinen zu können. Inzwischen kann ich meine Stimme so einsetzen, dass sie genau das zum Ausdruck bringt: Meine Liebe zum Leben, meine frohe Botschaft. Aber es war schon ein sehr langer Weg, der dorthin geführt hat.“
Besagten Konflikt bekam Cristina erstmals deutlich zu spüren, als sie während ihres Studiums in Sizilien bei einem Musical mitwirkte, in dem das Leben von Schwester Rosa Roccuzzo zelebriert werden sollte, der Gründerin des Ursulinenordens von der Heiligen Familie. Damals, so erinnert sie sich lachend, sang Cristina „gerade in einer Blues-Band, und ich war wütend auf alles – auf die Kirche und die ganzen Regeln, die sie mir aufzuerlegen schien. War wohl ein klassischer Fall von Rebellion einer Heranwachsenden. Ich fragte andauernd: ‘Warum muss ich zur Kirche gehen?’“ Cristinas Mutter hatte zufällig die Schwestern getroffen, die das Vorsingen für das Musical organisierten, und sie hatte ihrer Tochter daraufhin nahegelegt, es doch mal damit zu versuchen. Cristinas Reaktion: Erst mal weigerte sie sich, lehnte die Idee kategorisch ab. Doch ließ sie die Sache mit dem Vorsingen nicht mehr ganz los: „Und dann fand ich heraus“, berichtet sie mit der für sie so typischen Offenheit, „dass Claudia Koll, die früher einmal Schauspielerin war, irgendwann auch so eine Wandlung durchgemacht und sich für den Glauben entschieden hat, und dann dachte ich nur: ‘Hey, wenn ich da mitmache, dann treffe ich bestimmt Leute wie sie, jemanden, der mein Talent erkennt – und dann kann ich nach Rom gehen und von dort aus meine Musik-Karriere antreten.’ Na ja, genau genommen bekam ich die Rolle hinterher sogar ganz ohne Vorsingen. Ich spielte ein kleines Mädchen namens Rosa, und diese Rolle hat tatsächlich dazu geführt, dass ich mein ganzes Selbstbild hinterfragt habe: ‘Wer bin ich eigentlich?’, fragte ich mich – und auch diese Fragerei hat mich wütend auf Gott gemacht. Aber letztlich sollte diese Rolle, verbunden mit diesen Fragen, mein Leben komplett verändern. Denn irgendwann dachte ich nur: ‘Jetzt weiß ich, was Gott von mir will.’“
Nachdem sie an der Akademie für darstellende Künste in Rom (wo die bereits erwähnte Claudia Koll eine leitende Funktion übernimmt) Gesang und Tanz studiert hatte, trat Cristina dem Novizen-Haus der Ursulinen bei und ging daraufhin erst mal nach Brasilien, wo sie sich zwei Jahre lang der Arbeit mit armen Kindern widmen sollte: „Dieser Brasilien-Aufenthalt sorgte dafür, dass die Musik wieder ganz klar die Oberhand bekam, sie explodierte förmlich aus mir heraus“, erinnert sie sich. „Ich konnte sie einfach nicht länger zurückhalten. Ich habe dort andauernd für die Menschen gesungen, und genau das sollte die Musik letztlich für mich reinigen: Plötzlich wurde mir klar, dass es okay war, dass Musik und Glaube nicht voneinander getrennt sein müssen, dass die Frage eben nicht lauten musste, ‘Wie kann ich diese beiden Dinge getrennt voneinander verfolgen?’, also dass der ganze Konflikt gar keine Grundlage hatte. In Nord- und Südamerika hat es viel Tradition, dass sich Bands ganz klar dem Glauben verschreiben, dort wird die Verbindung von Musik und Religion als ganz normal angesehen. In Italien ist das ganz anders, da ist die Zeit irgendwie stehengeblieben, was das angeht. Und so ist das vielleicht meine Aufgabe, meine Mission: Genau das zu verändern. Schließlich bestärkt die Kunst letztlich sogar den Glauben. Sie nimmt ihm nichts.“
„Die Tatsache, dass die Leute vielleicht nicht so genau verstehen, was ich da mache – oder sogar die Tatsache, dass ich das überhaupt mache, hat viel mit der Vergangenheit zu tun. Die Kirche hatte immer diese festen, unumstößlichen Strukturen. Nur das Zeichen, das ich mit ‘The Voice’ gesetzt habe, ging trotzdem um die Welt – und ich würde mal sagen, das beweist, dass die Leute genau diese Art von Botschaft hören wollten, dass man damit Grenzen und diese Strukturen überwinden kann. Dazu kommt, dass der aktuelle Papst ja selbst daran arbeitet, dass die Kirche ein positives Beispiel für junge Menschen abgibt; sie soll ein positives Zeichen setzen – wo es doch sonst schon so viel Negatives um uns herum gibt. Ich persönlich will eine positive Message transportieren. Natürlich ist es ungewöhnlich, eine Nonne so zu sehen, daran besteht kein Zweifel, und das fühlt sich manchmal schon so an, als würde man gegen den Strom schwimmen. Und ja, irgendetwas stimmt mit mir einfach nicht, wenn ich mich nicht mit Musik beschäftigen kann. Denn sie ist auch mein Heilmittel, und sie ist letztlich das, was mich mit Gott verbindet. Die Musik hat mich auserwählt, und ich habe sie gewählt – was davon kam zuerst? Bei Gott ist es genauso: Wählt er dich, oder wählst du Ihn? Zufälle gibt es nicht. Ich bin mit dieser Gabe geboren worden und sie bedeutet mir alles – aber ich muss sie auch mit anderen Menschen teilen, und zwar lauthals.“
Bei unserem Treffen im Kloster spielt mir Cristina auch ihr kommendes Debütalbum vor, und sie muss lachen, wenn ich sie darauf hinweise, dass ihr Fuß immer dann ganz heftig im Takt wippt, wenn die rockigeren Songs an der Reihe sind – so zum Beispiel die Coverversionen von „Price Tag“, „Try“ von Pink oder auch „No One“. Womit feststeht: Cristina wird wohl immer ein Rock-Girl bleiben. Vor allem fällt auf, wenn man etwas mehr Zeit mit ihr verbringt, dass die im Gespräch thematisierte Dualität bei ihr nicht in Widersprüchen mündet, im Gegenteil: Die beiden Pole ergänzen sich inzwischen. Ihr tiefer Glaube ist in ihrer Leidenschaft für die Musik aufgegangen, eins geworden mit ihr. Und auch das Album vereint zwei Pole: Den schnelleren Stücken hat sie sehr viel ruhigere, introspektive Momente gegenübergestellt – der schönste davon ist vielleicht Cristinas unglaublich eindringliche Version von Coldplays „Fix You“, bei dem ihre Stimme von einem Chor eingerahmt wird, was die Aussage des Songs noch deutlicher in den Vordergrund rückt. Ähnlich persönlich wirkt ihre Interpretation von „Somewhere Only We Know“ (Keane), oder auch die von Cyndi Laupers „True Colors“. Madonnas „Like A Virgin“ hat sie hingegen komplett umgekrempelt: „Generell habe ich die Songs aufgrund ihrer Texte und ihrer Aussage ausgewählt. Manche Texte wirken extrem christlich auf mich, selbst ein Stück wie ‘Like A Virgin’ fällt in diese Kategorie, obwohl ich natürlich auch verstehen kann, dass manch einer diese Wahl als ziemlich brisant empfinden wird. Für mich handelt der Song von der Schönheit, die darin liegt, sein Leben zu verändern; ich wollte damit die Idee zum Ausdruck bringen, dass Gott einen emotional berühren kann. Ins Dunkel meiner Krise kam Gott und berührte meine Seele – und gab mir so die Würde, seine Tochter zu sein. Im Text von ‘Somewhere Only We Know’ gibt es eine Zeile – ‘I’m getting old and I need someone to rely on’ –, und ich verstehe sie so, dass es um die Suche nach einem Ort geht, von dem aus man einen Neuanfang wagen kann.“
Im Juli hat Sister Cristina ihr Gelübde erneuert, und sie plant, wie sie sagt, ihr Leben als Nonne fortzuführen, ein Leben, das bedeutet: „Früh aufstehen, beten, Gottesdienst.“ „Mein Herz weiß einfach, wie man singt“, sagt sie abschließend. „Papst Franziskus hat gesagt: ‘Geht hinaus und verkündet das Wort Gottes’, und zwar ganz natürlich, wie es sich für euch richtig anfühlt. Genau das ist meine Message, mein Leben. Das ist es, was ich mache.“