SIGRID
Denken wir einmal an Januar 2020 zurück… fühlt sich seltsam an, wie ein Tagtraum von einem Leben, bevor die sogenannte neue Normalität eintrat. Die 24-jährige Sigrid arbeitete zu der Zeit in LA an den ersten neuen Songs, die als ehrenwürdige Nachfolger an den Erfolg ihres 2019 erschienenen Debütalbums „Sucker Punch” anknüpfen sollen. Das von Kritikern gelobte Album „Sucker Punch” gehört zu den Top 5 Alben 2019 in UK und wurde mit dem BBC Sound of 2018 Award ausgezeichnet. Die Festival-Hymne „Strangers“ schaffte es in die Top 10 und hat zudem bereits Platinstatus erreicht.
Nach ihrer Rückkehr nach Norwegen zog es Sigrid für weitere Experimente in der Pop-Alchemie, wieder nach LA. Im März 2020 durchkreuzte die globale Pandemie ihre Pläne, da Amerika nur einen Tag davon entfernt war die Landesgrenzen dicht zu machen. Somit musste Sigrid wieder zurück nach Norwegen, jedoch kam sie nicht allein zurück. Sie hatte bereits ihre Ideen zu ihrer partytauglichen und beeindruckenden Comeback-Single „Mirror“ im Gepäck. „Die Single ist definitiv von Disco inspiriert, der harte Bass erinnert mich allerdings an Bands wie Muse, mit denen ich aufgewachsen bin“ sagt Sigrid über das erdbebenartige Intro der Single, das man hoffentlich bald aus einem riesigen Soundsystem auf Festivals und Konzerten zu hören bekommt. Sigrid war außerdem einer der größten Live-Acts im Jahr 2019, sie spielte auf dem Glastonbury Festival, während sie gleichzeitig mit ihrer eigenen ausverkauften Headliner-Tour durch UK tourte. Außerdem war sie als Supportact für Künstler wie George Ezra und Maroon 5 unterwegs. „Mirror ist eine sehr lebendige Version eines Popsongs. Die Single ist heavy. Ich liebe es, da ich den Bass in meiner Brust spüren muss, wenn ich singe.“
Textlich gelingt ihr auch bei „Mirror“ der Sigrid-typische Trick, sie setzt den Fokus auf die persönliche Ebene und lässt trotzdem Interpretationsspielraum. Während der sofort süchtig machende, hymnische Refrain von „I love who I see looking at me in the mirror“ als Statement zur Body Positivity gesehen werden kann, ging es für Sigrid eher um innere Kämpfe nach ein paar verrückten Jahren im Rampenlicht. Sie steht durch ihren Erfolg mit „Don’t Kill My Vibe“ seit 2017 in der Öffentlichkeit. Wie dieser Song ist auch Mirror ein weiterer Banger, der Negativität in Stärke umwandelt. „In Mirror geht es für mich darum, meine Persönlichkeit mit all ihren Fehlern zu akzeptieren und zu versuchen, mit nicht so schwerem Gepäck durchs Leben zu laufen“, erklärt sie. Der Song wird auf dem kommenden neuen Album von einer Handvoll anderer Songs begleitet, die in dieser Zeit entstanden sind, in der sie sich während der Pandemie hinsetzen und über diese Thematik nachdenken konnte. „Was passiert ist, war so schrecklich, und ich hatte großes Glück, dass niemand, der mir nahesteht, ernsthaft erkrankt ist oder seinen Job verloren hat, aber um nicht den Kopf zu verlieren, habe ich versucht, auch den Silberstreif zu sehen“, sagt sie. „Es gab also auch gute Dinge – ich habe es genossen, Zeit zu haben, um wirklich innezuhalten und nachzudenken. Das neue Album ist dadurch besser geworden. Beim letzten Album hatte ich nicht unbedingt Zeit – wir haben Strangers in zwei Tagen geschrieben und dann war ich auf Tournee.“
Sie ist zwar zufrieden mit dem Tempo, mit dem „Sucker Punch“ durchgestartet ist – es wurde schließlich das neuntmeistverkaufte Debütalbum des Jahres 2019 in Großbritannien, gleich hinter „Mabel“ – dennoch war es ein Wirbelwind, der zur Selbstreflexion führte. „Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken, was die Leute dachten, wer ich bin, und was ich dachte, wer ich bin“, sagt sie, wobei diese lyrische Ehrlichkeit auch persönlich nie weit von der Oberfläche entfernt ist. „Das war ein wirklich seltsamer Weg – ich hatte definitiv eine kleine Identitätskrise, denn das, was mir am wichtigsten war, wurde mir weggenommen, also das Touren und Reisen und das Künstlerdasein. Ich dachte: Wer bin ich ohne die Musik? Mein Selbstwert als Mensch ist nicht nur die Arbeit, aber wer bin ich ohne meinen Job? Aber durch die Pandemie wurde mir klar, dass ich nichts anderes machen will. Das was ich aktuell mache, ist genau das, was ich für den Rest meines Lebens machen möchte.“
Auch Sigrid kämpfte mit ihrem Image. Als sie anfing, war ihr Stil minimalistisch: weißes T-Shirt und Jeans, die utilitaristische Uniform des allzeit bereiten Popstars. Irgendwie wurde er im Laufe der Zeit verzerrt, Kritiker hielten ihn für das Produkt eines Marketing-Meetings eines Major-Labels. „Ich hatte das Gefühl, dass ich einen Teil der Verantwortung verloren habe“, sagt sie. „Es wurde so viel über das weiße T-Shirt und die Jeans geredet, in jedem Interview, auf jedem Poster, alles war so sehr darauf fokussiert, und als wir diesen Zyklus begannen, war ich wirklich frustriert und verwirrt – es fühlte sich an, als wäre es nicht mehr meins. Am Ende habe ich jedoch herausgefunden, dass es mir gehört. Es kam von mir. Ich werde nicht zulassen, dass jemand anderes sich das zu eigen macht.“ Das führte auch zu einer eher existenziellen Erkenntnis. „Ich fing an zu überlegen, ob ich ein gutes Vorbild bin, wenn ich mich nur deshalb so anziehe, damit die Leute nichts darüber sagen können, dass ich versuche, meinen Körper zu benutzen, um ‘nach oben’ zu kommen. Wäre ich ein besseres Vorbild, wenn ich es schaffen würde, meine Privatsphäre zu schützen, aber trotzdem nicht lügen würde, dass ich eine Frau bin? Ja, ich mag es, mich gut zu fühlen, während ich eine junge Unternehmerin bin… Ich denke, das ist ziemlich krass.“
Dieses Gefühl, die Kontrolle zu übernehmen, durchzieht einen Großteil von Sigrids zweitem Album. Es ist eine Platte, die sich sowohl mit dem Ende von Beziehungen als auch mit dem Beginn von neuen beschäftigt. So konfrontiert der zukünftige Live-Favorit Burning Bridges einen Ex mit Offenheit: „tried to wave a white flag but you set it on fire“. „Der Track ist definitiv offen für Interpretationen in Bezug auf die Art der Trennung, von der ich spreche, aber es war von einem der härtesten Momente, die ich bisher durchgemacht habe, inspiriert", sagt sie. „Es ist ein Song, der von dem Moment handelt, an dem man einfach sagen muss ‘weißt du was, lass uns das einfach beenden’. Dieser Moment, in dem es genug ist. Ein klarer Bruch.“ Auf der anderen Seite gibt es den verliebten, tanzbaren Song „Nobody Else“ („I wanna love you and nobody else“), der in Norwegen gemeinsam mit dem „Sucker Punch“-Kollegen Askjell Solstrand geschrieben wurde. Das Album nahm im letzten Sommer in Norwegen wirklich Gestalt an, wobei die Tatsache, dass Superstar-Songwriterin Caroline Ailin (Dua Lipa, Julia Michaels) – mit der Sigrid Anfang 2020 in LA zusammen mit Emily Warren gearbeitet hatte – mit ihrem neuen Partner, dem Produzenten Sly (Jonas Brothers, Dua Lipa), nach Dänemark gezogen war, half massiv. Als sich die Grenzen zwischen Norwegen und Dänemark im letzten Sommer öffneten, verbrachte Sigrid wochenlang mit den beiden, um zu schreiben und aufzunehmen. „Wir gingen zu einem kleinen Pier und gingen zwischen den Schreibsessions schwimmen“, erinnert sie sich. Es war das Auf und Ab in der Arbeitsbeziehung von Ailin und Sly – wobei Ailin mehr auf Pop-Präzision und Sly mehr auf Experimentelles ausgerichtet war -, das Sigrid sehr gefiel. „Wir hatten eine gute Aufteilung zwischen großen Hooks und schrägeren Momenten, und ich war sozusagen in beiden Lagern“, lacht sie. „Ich liebe Dinge, die super eingängig und direkt sind, aber ein anderer Teil von mir ist für die experimentelleren Sachen zu haben und andere Dinge auszuprobieren.“
Das ist der Grund, warum das Album teilweise mehr zu einer organischen, fast volkstümlichen Instrumentierung tendiert, mit Songs wie dem psychedelischen „Dancer", der auf akustischen Gitarren im Stil der 70er Jahre aufgebaut ist und Sigrids Kindheitsidole wie Neil Young und Joni Mitchell widerspiegelt. „Der Song ist von vielen Old-School-Sachen wie Neil Young, Joni Mitchell, mit denen ich aufgewachsen bin, aber auch von Künstlern wie Elton John und ABBA beeinflusst. Dann gibt es Songs, die mehr von Disco beeinflusst sind, weil ich die Bee Gees sehr mochte – nicht nur die Singles, sondern auch ihre Alben. Auch das ganze Touren und die Festivals, auf denen wir waren, haben mich inspiert. Ich habe Bands wie Tame Impala gesehen.”
Vielleicht ist der Song, der all diese Einflüsse zeigt, derjenige, auf den Sigrid am stolzesten ist, das cineastische „It Gets Dark“, über „das Hin- und Hergerissen sein zwischen dem Leben in Norwegen und dem verrückten Leben draußen, sei es London, LA oder New York. Dieser Song war ein Post-Debüt-Album zum Thema ‘was mache ich jetzt mit meinem Leben’.“ Seine brennende Ehrlichkeit ist umgeben von Streichern, treibendem Bässen, kraftvollen Drums und einem sehr reinen Gefühl von emotionalem Drama, das sich sofort klassisch anfühlt.
Obwohl die Pandemie und die daraus resultierende Abriegelung nicht direkt erwähnt wird, ist ihr Einfluss überall auf der Platte zu hören. „Viele dieser Songs hätte ich nicht geschrieben, wenn 2020 nicht auf diese Weise passiert wäre. Es war ein Moment der Reflexion. Ich bin keine Künstlerin, ohne im Studio zu sein und zu schreiben, und ich bin keine Songwriterin, ohne auf der Bühne zu stehen.“ Am deutlichsten spürt man das auf dem großartigen „High Note“, das von der gotischen Corpus Clock in Cambridge inspiriert ist, einem buchstäblichen Symbol für das Vergehen der Zeit und die Notwendigkeit, das Leben wirklich in vollen Zügen zu leben. „Wir haben den Song letzten Sommer geschrieben, als wir alle über die Sterblichkeit nachdachten, es gab eine Woche mit vielen Emotionen und dem Nachdenken über Leben und Tod“, erinnert sie sich. „Die Uhr ist da, um die Leute an die Zeit zu erinnern und daran, dass man seine Zeit weise verbringen sollte.“ In „The fuzzed up Risk of Getting Hurt“ geht es darum, das Leben zu packen, wenn man kann, auch wenn es Risiken birgt. „Ich schreibe über Kämpfe, weil es mir hilft, die beschissenen Zeiten zu überstehen. Wir alle erleben Schmerz und jeder hat seinen eigenen Prozess, damit umzugehen. Wir alle gehen Risiken ein, und manchmal zahlen sie sich aus und manchmal nicht. Meine Mutter sagt immer, man muss arbeiten, damit es sich auszahlt, und dann ist es umso besser.“
Eine weiterer roter Faden, der durch das Album führt, ist der Gedanke an die ewig geduldigen Sigrid-Fans, deren Liebling für den größten Teil des letzten Jahres so gut wie verschwunden war, während andere Pop-Künstler ihr Lager in den sozialen Medien aufschlugen. „Sie waren das Licht am Ende des Tunnels dieser Schreiberfahrung, einfach zu wissen, dass jemand da wartet, um es zu hören“, sagt sie. „Selbst wenn sie posten ‘Wo ist das Album?’, ist das schön zu sehen. Es erinnert mich daran, für wen ich Musik schreibe und veröffentliche. Ich habe so viele Künstler darüber reden sehen, wie schwer es ist, Songs für das Publikum zu schreiben, als ob das irgendwie nicht so cool wäre, wie für sich selbst zu schreiben. Aber für mich bedeutete es während Covid alles, zu wissen, dass jemand sie hören würde. Zu wissen, dass die Fans diese Songs am Ende hören würden, hat diesem Jahr der Songwriting-Einsamkeit einen echten Sinn gegeben.“ Es folgt eine Pause. „Ehrlich gesagt, habe ich endlich den Mut zu sagen, dass ich gut darin bin.“ Mit diesem zweiten Album hat Sigrid auch erkannt, dass das Musikmachen für sie heilsam ist: dass es alles ist, was sie tun will. Die gigantische Single „Mirror“ ist eine Hymne für ihre Fans, aber auch eine Erinnerung an sich selbst: dass es mit der Person im Spiegelbild beginnt. Bald werden diese emotionalen Songs, die zwischen Dancefloor und stillen Ecken pendeln und von Reflexion, Umbruch und Veränderung durchdrungen sind, die Hymnen anderer Leute sein. Dann kann die emotionale Befreiung erst richtig beginnen. Für alle.