Sido, der Junge hinter der Maske. Das schlechte Vorbild. Der Mann, der alle Schuld auf sich nimmt und für alles Schlechte in dieser Welt gerade steht. Sido der Rüpelrapper, der unsere Jugend verroht und sie zu Drogenkonsum und Pornographie verführt hat. Der, der mit Ausdrücken um sich wirft und trotzdem zur Wahl geht. Sido, der Unberechenbare. Sido, der Asoziale. Sido, der mit den Kinderchören und den poppigen Hooklines. Der, der immer nach einer Botschaft sucht. Sido, der Moralist und Gutmensch, der Mahner und große Bruder. Der mit dem erhobenen Zeigefinger – ist das nicht Sido der Rapper? Sido der Rapstar? Sido der Star?
Seit 1997 kämpft sich Sido nach oben im Musikgeschäft. Angefangen mit einem schäbigen Mikrophon zwischen leeren Pizzakartons und Ratten in einem Weddinger Hinterhof bis ganz hinauf an die Spitze. Ausgezeichnet mit allen wichtigen Trophäen, versehen mit goldenen Schallplatten und solchen aus Platin. Bedingungslos geliebt von seinen Fans produziert er heute erfolgreich Fernsehsendungen, macht ein durchschlagendes Album nach dem anderen und landete mit Blutsbrüder sogar einen Überraschungserfolg in deutschen Kinos. Eine deutsche Rapkarriere – eine einzigartige Karriere!
Doch Sido ist noch nicht fertig. Auch wenn er immer wieder in seinen Texten thematisiert, dass er sich langsam auf sein Altenteil zurückziehen will, mehr als Koketterie sind diese Aussagen trotzdem nicht. Denn was Sido antreibt ist mehr als nur das Schein und Sein im Musikgeschäft. All die Annehmlichkeiten und Vergünstigungen, all das Lob und Schultergeklopfe, all die Ehrungen und Lobhudeleien, sie kommen und sie gehen und niemand weiß das besser, als der Mann, der mit einer Totenkopfmaske angefangen hat und von allen gehasst wurde. Später haben sie ihn dann hochleben lassen, doch ob gemocht oder nicht, das was in einem steckt, was einen antreibt, was einen morgens aufstehen lässt, um noch einen Song zu machen und noch einen Song, das bleibt immerzu gleich, egal ob in Zeiten des Wohlstands oder in Zeiten der Krisen.
Tief im Innern, im Kern des Paul Würdig, dem alle bescheinigt haben, dass aus ihm sowieso nichts werden würde, in diesem Kern ist etwas verborgen, was immer wieder raus muss und raus will. Nennen wir es Genie. Nennen wir es Kunst. Nennen wir es einfach Talent, das einen Jungen aus dem Osten, der im Flüchtlingsheim und im Märkischen Viertel groß geworden ist, immer wieder angetrieben hat. Das ihn immer noch antreibt auch heut noch, diesen Mann, der jetzt ein Haus im Grünen hat und vor kurzem zum zweiten Mal Vater geworden ist. Talent, das ihn immer wieder antreibt, anfeuert und anstachelt, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und das, was er sieht in großartige Songs zu verwandeln. Er müsste nicht. Er könnte chillen. Er könnte sich auf die Wiese vor seinem Häuschen legen, sich die Sonne auf den Bauch oder aus dem Arsch scheinen lassen und ansonsten mit Frau und Kindern dem Spießerleben frönen.
Er müsste keinen Song mit Helge Schneider machen, in dem er den bundesdeutschen Trend zu immer mehr Arbeit und noch mehr Arbeit und noch ein kleines bisschen mehr Arbeit auf die Schippe nimmt und sich als Prototyp der Totalverweigerung präsentiert. Ein Lied, das die FDP auf die Palme bringen dürfte und nichts mit irgendeiner Moral zu tun hat. Ein Statement gegen den Neoliberalismus! So lange ihr uns nicht fair bezahlt, bleiben wir zu Hause. Basta.
Er müsste nicht. Er müsste keinen Song über einen Sinti aus Marzahn machen, der sich auf U-Bahnhöfen mit seiner Gitarre durchs Leben schlägt oder an Straßenkreuzungen mit einem Fensterputzset. Er müsste nicht. Nicht in Zeiten, in denen sich ein Bundesinnenminister öffentlich gegen die Armutseinwanderung ausspricht und es wieder populär geworden zu sein scheint, über die bettelnden Zigeuner zu schimpfen. Hinter vorgehaltener Hand natürlich – noch. Sido müsste das nicht tun, er könnte das alles vergessen und ignorieren, allzumal er durch seine persönliche Sinti-Abstammung ja selbst ins Kreuzfeuer der Polemiken geraten könnte. Doch Sido will. Er möchte sich dazu äußern, weil er das Gefühl hat, dass er etwas dazu zu sagen hat und dass es wichtig ist, was er zu sagen hat. Vor allem aber ist ihm wichtig, wem er es sagen kann, denn statt irgendwelchen politischen Sonntagsrednern hören die Jugendlichen immer noch lieber auf den ehemaligen Maskenmann – das ist heute mit dem “Sinti aus Marzahn” nicht anders als zu Zeiten des “Arschficksongs”.
Und da ist sie wieder. Die Vergangenheit, die einen doch immer wieder einholt, selbst wenn man doch mittlerweile ganz anders geworden ist. Zumindest möchte man das gern selbst glauben und man möchte auch der Welt gerne zeigen, dass man ein ganz anderer geworden ist, dass man seriös geworden ist, mit guten Manieren und so. Ein erwachsener Mann mit Selbstbeherrschung und Disziplin, schließlich hat man ja auch Kinder, man hat Verantwortung und der möchte man doch Gerecht werden. Irgendwie, aber dann … dann gibt es zwischendurch doch immer wieder Momente, in denen man ausrasten könnte und solche, in denen man das dann auch tut. Einfach mal wieder durchdrehen, auf die Kacke hauen, die Sau raus lassen, rumbrüllen und pöbeln, so wie früher, als man noch jung, dreckig und wild war.
Aber dann … gerade wenn es am schönsten ist, gerade, wenn man so richtig in Fahrt gekommen ist, gerade dann hört man plötzlich hinter sich eine kleine feine Stimme. Ein sanftes “Papa, was machst du da?” holt einen schlagartig in die Realität zurück und dann dreht man sich um und erkennt sich, erkennt sich durch die Augen der eigenen Kinder und dann wird das alles so peinlich, ganz schrecklich peinlich. Und auch davon erzählt Sido, von dieser schrecklichen, bodenlosen Peinlichkeit. Ohne Scheu lässt uns Sido an seinem Leben teilhaben, wie kaum ein zweiter. Warum? Weil er es kann. Weil er die Größe hat. Weil es ihm nichts ausmacht. Weil die Idee gut ist. Weil er es einfach erzählen muss obwohl er es ja eigentlich gar nicht mehr müsste.
Sido müsste dieser Lieder nicht schreiben, doch er schreibt sie. Er macht es einfach, denn er ist Sido. Er kann nicht anders.
Blutzbrüdaz- Die Mukke Zum Film
Aus den grauen Plattenbauten des Märkischen Viertels in Berlin zu Deutschlands Entertainer #1, mit Herzblut, eisernem Willen und unerschütterlicher Liebe zur Musik. Die Geschichte von Sido ist oft erzählt worden. Von den Medien, die ihn hassten. Von den Fans, die ihn lieben. Und von Sido selbst, dem wohl wichtigsten deutschen Rapper der Gegenwart. Nun ist sie endlich auch in einem Film verewigt: „Blutzbrüdaz“ von Top-Regisseur Özgür Yildirim („Chico“) kommt dieser Tage in die Kinos, und pünktlich zum Filmstart liegt auch der Soundtrack auf dem Gabentisch. „Die Mucke zum Film“ ist dabei viel mehr als „die Mucke zum Film“. Es ist ein brandneues Sido-Album!
„Blutzbrüdaz“ erzählt die Geschichte der Kumpels Otis (Sido) und Eddy (B-Tight), die gemeinsam an der Verwirklichung ihres großes Traums arbeiten. „Ich werde Rap-Superstar, ich kehr’ der Gosse den Rücken / Bis auch den Lehrern nichts mehr bleibt, als meine Flossen drücken.“ Die Parallelen zum realen Lebenslauf der beiden Gold-Rapper sind unübersehbar. Ebenso die Charaktere, denen Otis und Eddy auf ihrem Weg vom Bordstein ins Rampenlicht begegnen: der halbseidene Plattenfirmen-Hai, der Szene-Veteran, der notorische Hustler von nebenan. Wer mit der Geschichte der beiden ehemaligen Aggroberliner vertraut ist, wird vieles und viele wieder erkennen. Viel mehr als die deutsche Version von „8 Mile“ aber ist „Blutzbrüdaz“ eine universelle Studie über Freundschaft, Ideale und Moral – fern von allen Klischees erzählt von Özgür Yildirim, der bereits mit seinem Kiez-Drama „Chico“ die perfekte Balance aus Humor, Sozialkritik und Straßennähe fand.
Die Musik, die Sido für den Soundtrack zusammengestellt passt dazu wie die sprichwörtliche Faust auf die Fresse. Auf insgesamt fünf Tracks rappen Sido und B-Tight, hungrig wie in den glorreichen Anfangstagen ihrer Band Alles ist die Sekte – aber mit der Erfahrung und dem technischen Können von unzähligen Alben, Auftritten, Awards. Auch andere alte Weggefährten aus dem engeren Freundeskreis kommen zu Wort, darunter Tony D und Alpa Gun, der ebenfalls im Film zu sehen ist.
Den wohl beeindruckendsten Track aber liefert Sido ganz im Alleingang ab. „Geboren um frei zu sein“ ist nicht nur die erste Single-Auskopplung aus „Blutzbrüdaz“. Vor allem ist es ein Manifest Sidos einzigartiger Persönlichkeit. Eine Hymne auf die Freiheit und darüber, dass man beim Verfolgen seiner Ziele nie seine Ideale aus den Augen verlieren darf. Wie kein anderer Künstler der letzten zehn Jahre hatte Sido in seiner Karriere mit Vorverurteilung zu kämpfen; in schöner Regelmäßigkeit wurden gefühlt alle Probleme unserer Gesellschaft auf ihn projiziert und schließlich abgeladen. Das Gerede prallte scheinbar an ihm ab, erst an seiner Maske, dann an seiner Goldkette, später an der Gewissheit, etwas geschaffen zu haben, das so viel mehr wert ist als das geheuchelte Schulterklopfen von Journalisten und Politikern. In Wahrheit hat die Kritik ihn natürlich dennoch berührt. Aber er ist ihr stets auf seine Weise begegnet, geradlinig, unangepasst und mit der ihm eigenen tiefen Abscheu vor falschen Regeln und Autoritäten. „Geboren um frei zu sein“ ist nun sein endgültiger Schritt aus dem Käfig, mehr Triumphflug als Triumphzug.
Passend dazu ist die musikalische Unterlage des Stücks. Erstmals überhaupt nämlich wurde für diesen Titel ein Sample von Ton, Steine, Scherben, der Band des großen Rio Reiser, zur Verwendung freigegeben. „Wir müssen hier raus“ heißt das Original, 1972 erscheinen auf der legendären Doppel-LP „Keine Macht für Niemand“. Der große Pop-Revoluzzer der siebziger und der vermeintliche Skandalrapper der nuller Jahre – das können nur komplett Unverständige für einen Widerspruch halten. Die Umstände und die Diktion mögen sich über die Jahre verändert haben, doch im Herzen sind Rio und Siggi Brüder im Geiste und „Wir müssen hier raus“ der finale Ritterschlag, den Sido im Grunde schon längst nicht mehr nötig gehabt hätte. Dass Scherben-Gitarrist R.P.S. Lanrue für die Aufnahmen zu „Geboren um frei zu sein“ sogar eigens seine Parts neu eingespielt hat, spricht da zusätzlich eine eigene Sprache. Ein tief bewegender Song und ein weiteres aufrührerisches Ausrufezeichen von einer der wichtigsten Stimmen unserer Generation.
Bemerkenswert an „Blutzbrüdaz“ ist zudem, dass Sido seinen vielfach vergoldeten und gründlich versilberten Status als Rap-Ikone nicht nur nutzt, um sich ausgiebig selbst zu beweihräuchern. Vielmehr bietet er mit der Platte einigen der talentiertesten Rapper Deutschlands eine prominente Plattform. So zeigt er gemeinsam mit Ruhrpott-Rüpel Favorite Vater Staat den imaginären Mittelfinger („Arbeitsamt“). An der Seite des Hamburgers Laas Unlimited gewährt er zu Trance-Flächen und Autotune-Effekt tiefe Einblicke in das Seelenleben eines geborenen MCs („Das Leben ist ein Arschloch“). Mit Aachens „New Kid On The Block“ MoTrip steigt er tief in die Abgründe des Alltags („Immer tiefer in den Dreck“) – nur um schließlich mit Multitalent Damion Davis gen Sonne zu fliegen. Auch der Offenbacher Straßen-Champ Haftbefehl ist mit einem Track vertreten, ebenso US-Raplegende Erick Sermon (EPMD, Def Squad), einer von Sidos erklärten Privathelden.
Damit schließt sich der Kreis. Anders als so viele Soundtrack-Alben ist „Blutzbrüdaz – Die Mukke zum Film“ keine willkürliche Ansammlung von Stücken und großen Namen, sondern die perfekte musikalische Umsetzung des Filmkonzepts. Ein einzigartiger Einblick in den Mikrokosmos des Menschen Paul Würdig und HipHop-Fan Sido. Und nicht zuletzt eine dicke Packung neuer Musik eines echten Ausnahmekünstlers.
Die Single „Geboren Um Frei Zu Sein“: ab dem 25.11.2011
Das Album „Blutzbrüdaz- Die Mukke Zum Film“: ab dem 02.12.2011
Der Film „Blutzbrüdaz“: ab dem 29.12.2011- NUR IM KINO!