Immer neue Musiker- und Fan-Generationen saugen begeistert das Oeuvre von Serge Gainsbourg in sich auf. Seit Jahrzehnten imitieren zahllose Anti-Popstars seine knappen Nadelstreifenjacketts und die Unfrisur. Nur an den echt Gainsbourgschen Eulenblick hat sich noch niemand getraut. Unkopierbar: sein Galgenvogelgesicht. Gainsbourgs unsterbliche “Barfly”-Baritonstimme, sein wildes poetisches Weltbild und sein oft skandalträchtiges Schaffen bleiben einzigartig.
25 Jahre schon blickt er aus dem Jenseits der Sünder, Spieler und genialen Exzentriker auf diese (ohne ihn etwas langweiliger gewordene) Welt herab. Gainsbourg starb 1991 mit 62 an einem Herzinfarkt. Er war nicht nur Sänger und Musiker, sondern auch Maler, Schriftsteller und Regisseur. Sein Werk berührt den Jazz, Film Noir, und Existenzialismus, Chanson, Surrealismus und Naturalismus, die Psychedelia und Pop-Art, den Rock, Funk, Mambo, Reggae und Dancefloor. Das von ihm hinterlassene Repertoire umspannt vier Jahrzehnte.
Lucien Ginsburg, 1928 in eine russisch-jüdische Familie hineingeboren, betrat die Be-Bop- und Existenzialisten-Szene seiner Heimatstadt Paris zum Ende der 1950er Jahre. Inspiriert vom Sänger Boris Vian, spielte er im Milord D´Arsouille-Cabaret zunächst Gitarre und dann Piano. Kurz darauf legte er sich den Künstlernamen Serge Gainsbourg zu. In den frühen 1960er Jahren etablierte sich Gainsbourg als Songwriter für Juliette Grecó, die seine “Javanaise” zum Klassiker der französischen Popmusik machte.
Von der Mitte der 60er an machte sich Serge selbst zum Pygmalion bedeutender französischer Sängerinnen, die da kommen sollten: Valerié Lagrange, France Gall, Godards Muse Anna Karina und natürlich Brigitte Bardot, mit der er eine Beziehung hatte.
Nachdem er 1967 mit Bardot den retro-artigen “Bonnie & Clyde”-Clip gedreht hatte, markierte der musikalische Kurzfilm “Comic Strip”, ebenfalls mit Bardot, ein Jahr später den Beginn seiner Performance- und Psychedelia-Phase der späten 60er. Die Trennung von Bardot fügte dem Begnadeten, der in Interviews immer etwas linkisch von unten herauf schaute, manisch rauchte und mit seinen nervösen Händen nicht wusste, wohin, die ersten Risse ins Antlitz. Immer noch bekam Gainsbourg die tollsten Frauen nicht nur Frankreichs, sondern auch Englands. 1969 veröffentlichte er das Album “Jane Birkin/Serge Gainsbourg”. Mit der Single “Je t´aime… moi non plus” zeugten die beiden den erotischen Pop.
Zwei Jahre später waren
Gainsbourg und Birkin im surrealen, von Jean Cristophe Averly gedrehten Kurzfilm “Histoire de Melody Nelson” zu sehen. Das dazu gehörende Album schrieb Rockgeschichte. Gut zwanzig Jahre nach Erstveröffentlichung entdeckte eine ganz neue Musikergeneration die “Histoire de Melody Nelson”:
Air, Pulp, Portishead,
R.E.M.,
Placebo, De La Soul,
Beck,
David Holmes coverten seine Titel, bauten Samples aus “Melody Nelson” in ihre Songs ein, machten das Album zum stilistischen Referenzpunkt des Indie-Rocks der 90er.
Als sich dann auch Birkin von Gainsbourg trennte, brannte den Verlassenen sein exzessives Leben immer mehr aus. Um zu überleben, floh der Singer-Songschreiber nach Jamaika. 1979 veröffentlichte Serge das Album “Aux armes et caetera”, dessen Reggae-Version von Frankreichs Nationalhymne ihm ein kontroverses Comeback bescherte.
Trotz allem Humor mutierte Gainsbourg in den 1980ern immer weiter zu Frankreichs Harald Juhnke. 1985 versetzte der endlose Provokateur die Sittenwächter noch einmal in Rage, mit Tochter Charlotte und dem Lolita-Video “Lemon Incest”, der Titel sagt alles, die Musik entlehnte er Frederic Chopin. Nach dem 1987 veröffentlichten letzten Album “You´re Under Arrest”, das Gainsbourg mit Funk, New Wave und Rap noch einmal in die Clubs brachte, wurde es still um ihn.
Wie weit der Mann seiner Zeit voraus war, wie wenig Angst er davor hatte, alles von sich, auch seine dunkle Seite in eine kunstvolle Sprache zu formulieren, seine schonungslose Offenheit zum Motor dieser Sprache zu machen, das erhebt und verstört. Es wird nie wieder jemand wie Serge Gainsbourg geben.