Selbst ein absoluter Megastar wie Bono, ein Mann also, der es wirklich wissen muss, hat sie schon mal als “die beste Popgruppe der Welt” bezeichnet, und als ob das nicht genug wäre, haben sich ihre ersten drei Alben millionenfach verkauft in aller Welt. Stolze 4,5 Millionen Mal allein in UK, und so sind sie inzwischen rund um den Globus bekannt, von ihrer Heimat, den Staaten, über Japan und Australien, bis nach Deutschland und über den Ärmelkanal in jenes sie so sehr liebende Insel- und Königreich, das sie längst als ihre “spirituelle Heimat” bezeichnen. Sie haben in den letzten Jahren mit so unterschiedlichen Künstlern wie Santigold, 2 Bears oder Kylie Minogue gearbeitet, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass ihr eklektischer Dance/Pop/Rock-Sound mit krassem New Yorker Club-Einschlag gewissermaßen selbst dem Erfolg einer Lady Gaga den Weg geebnet hat. Die Rede ist von den Scissor Sisters, denn kaum einer anderen Band ist es gelungen, ähnlich konstant immer wieder den passenden Soundtrack zum neuen Jahrtausend abzuliefern.
Was ihre Alben angeht, sind Scissor Sisters in Zeiten wie diesen – wo das Albumformat von so manchem als vom Aussterben bedroht eingestuft wird – die ultimative Ausnahme: Ihre LPs kann man immer und immer wieder durchhören; das gute alte Motto “all killer, no filler” trifft in ihrem Fall tatsächlich zu. Schon ihr gleichnamiges Debütalbum aus dem Jahr 2004 definierte den Goldstandard neu – genau genommen war es natürlich Platin- –, denn es entpuppte sich als das erfolgreichste Album des Jahres in Großbritannien und stellte obendrein klar, dass auch Erfolg haben kann, was stilistisch in keine Schublade passt und stattdessen auf diversen Genrehochzeiten tanzt. Der Nachfolger “Ta-Dah” (2006) ging in UK ebenfalls an die Spitze der Charts, wobei sie auch in den Staaten eine Top−20-Platzierung erreichten und in Deutschland auf der #6 landeten. Auf dem Album vertreten war auch die Single “I Don’t Feel Like Dancin’”, ein Nummer-Eins-Hit in rund einem Dutzend Ländern, von Argentinien bis Australien und (über Deutschland) zurück, sowie die Highlights “She’s My Man”, “Land Of A Thousand Words” und “I Can’t Decide”, das grandios platziert in einer Folge der britischen Science-Fiction-Serie “Doctor Who” auftauchen sollte.
Danach gingen immerhin ganze vier Jahre ins Land, bis sie mit “Night Work” im Jahr 2010 ihr drittes Album veröffentlichten, doch hatte die längere Auszeit ihrer Beliebtheit keinerlei Abbruch getan: Wieder hieß es Top−20 in den Staaten, dazu Platz #2 in UK, und kein Wunder, schließlich ging dieses Club-Konzeptalbum ordentlich nach vorne; Highlights dieses Mal waren z.B. die unmissverständlichen Dancefloor-Hits “Any Which Way” und “Sex And Violence”.
Nun also, zwei Jahre später, meldet sich “die beste Popgruppe der Welt” mit dem vierten Album zurück – und auch dieses Werk ist genauso grandios vielseitig und abwechslungsreich wie die drei Vorgänger. Schon am 31. Oktober letzten Jahres verkündete Frontmann Jake Shears via Twitter, dass der neue Longplayer so gut wie im Kasten sei. Dennoch dauerte es noch bis Januar 2012, bis mit “Shady Love” ein erster Vorgeschmack in der BBC-Radiosendung von Annie Mac zu hören war. Jake hatte den Track unter seinem Pseudonym Krystal Pepsy gemeinsam mit Gast-Rapperin Azealia Banks aufgenommen, laut dem NME übrigens die “coolste Person auf der ganzen Welt”. Passt ja auch zur “besten Popgruppe der Welt”.
Am 13. März verkündeten Scissor Sisters dann den Titel des neuen Albums: “Magic Hour”. Die erste Single würde auf den Namen “Only The Horses” hören. Allein diese ersten beiden Tracks – einerseits eine astreine Rave-Pop-Nummer zum Feiern, wie gemacht für die Tanzflächen in Ibiza; andererseits ein Rap-Pop-Track, der eher in die Clubs von New York City gehört – lassen erahnen, wie eingängig und doch vielschichtig die Klanglandschaften sind, die sie auf “Magic Hour” versammelt haben. Klarer Fall also: Scissor Sisters haben zum vierten Mal ein Wahnsinnsalbum aufgenommen.
“Ich kann gar nicht fassen, dass das schon unser viertes Album ist”, berichtet ein strahlender Jake Shears. “Jetzt haben wir also schon vier großartige Platten aufgenommen. An diesen Punkt kommen die meisten Bands gar nicht, und ich bin extrem stolz, dass uns das gelungen ist.” “Magic Hour” beschreibt Jake als “eine ausgelassene Melange, Future-Pop mit satten Beats” und als Platte, “die ganz wild und unverfroren zwischen diversen Genres hin und her springt.” Entstanden sei diese wilde Mischung, indem sich Scissor Sisters – also er selbst, Babydaddy, Ana Matronic, Del Marquis und Randy Real – mit diversen hochkarätigen Musikern zusammengetan hätten, so zum Beispiel mit der bereits erwähnten Azealia Banks, mit Calvin Harris, Stuart Price, Pharrell Williams, Diplo und nicht zuletzt auch mit Alex Ridha, besser bekannt als Boys Noize.
“Oh ja, das Ganze war schon so ein richtiges Gemeinschaftsprojekt”, sagt Jake weiterhin über “Magic Hour”, das die Band in New York und London aufgenommen hat. “Dabei waren wir ziemlich schnell dieses Mal. Im Juni 2011 haben wir innerhalb einer Woche zum Beispiel ‘Only The Horses’ und noch ein paar andere Stücke geschrieben, die es aber schließlich doch nicht auf die LP geschafft haben. Danach ging’s erst im September weiter mit der Arbeit.”
Das eigentliche Schreiben der Songs ging, wie schon bei den Vorgängern, “flott, locker und ganz entspannt” von der Hand, nicht zuletzt, weil der Erfolg von “Night Work” zusätzliche kreative Energien freisetzte, so Jake.
“Echt sehr angenehm, wie das ablief”, weiß er über die ersten Kreativ-Sessions zu berichten, in denen noch gar keine exakte Richtung für den Longplayer festgelegt war. “Wir hatten einen großartigen Sommer gehabt, ein tolles Jahr hinter uns, und wir wollten an dem Punkt einfach ein Album machen ohne darüber zu viel nachzudenken, also ohne uns die ganze Zeit den Kopf darüber zu zerbrechen, was es sein und was es bedeuten könnte.” Nach kurzer Pause fügt er noch hinzu: “Genau genommen haben wir seit unserem Debüt kein Album mehr aufgenommen, bei dem wir uns dermaßen befreit gefühlt haben. Wenn man so ein Album schreibt und aufnimmt, dann können da schon mal Druck und auch Zweifel mitschwingen – aber bei dieser Platte war das kein bisschen der Fall. Es hat einfach Spaß gemacht, und das die ganze Zeit über!”
So ist “Magic Hour”, wie der Titel schon erahnen lässt, ein Album geworden, das von magischen Momenten und magischen Begegnungen und Freundschaften handelt. “Meine Freunde haben mich in diesem Jahr sehr stark inspiriert”, meint er. “Ich habe mich echt extrem wohl gefühlt und dazu ein paar ganz tolle Menschen kennen gelernt; ich würde sogar sagen, dass sich mein ganzes Leben dadurch verändert hat. Überhaupt finde ich, dass Musen sehr wichtig sind. Man muss diese anderen Menschen im Hinterkopf haben, wenn man einen wirklich guten Song schreiben will. Und so funktionieren viele der Songs auf ‘Magic Hour’ genau genommen sogar als persönliche Nachrichten an Menschen aus meinem Umfeld.”
Obwohl er sagt, dass Scissor Sisters natürlich immer eine Band sind, ihr kreatives Schaffen also immer ein gemeinschaftlicher Prozess ist, gesteht Jake doch, dass er als Texter in den Songs oftmals ganz persönliche Ansichten und Gefühle zum Ausdruck bringt, was auch auf “Magic Hour” der Fall sei. “Ja, es ist schon ein sehr persönliches Album geworden”, sagt er. “Meine Lieblingssongs sind letzten Endes immer diejenigen Stücke, die einem wirklich aus der Seele sprechen. Selbst wenn also echt viele Leute an der Entstehung dieser LP beteiligt waren, handelt sie in weiten Teilen doch vom letzten Jahr in meinem Leben, davon, wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich erkennt, dass man ja ein erwachsener Mann geworden ist. Seit ein paar Jahren zeichnet sich das nun schon ab, dass ich beim Blick in den Spiegel mehr und mehr einsehen muss, dass ich kein Jugendlicher mehr bin – obwohl ich mich doch oft genug noch wie einer benehme…”
Verglichen mit den Vorgängern, sei “Magic Hour” in jedem Fall “vollkommen anders als ‘Night Work’. Das war ja fast schon eine Art Konzeptalbum: Eine eigenständige Welt für sich, und bei ‘Ta-Dah’ war das eigentlich auch so. Die neue LP ist eher so etwas wie eine musikalische Wundertüte; was die Vielfalt angeht, erinnert sie wohl am ehesten an unser Debütalbum, denn man weiß nie so recht, wo man als nächstes landen wird. Da gibt’s zum Beispiel Stücke wie ‘San Luis Obispo’ und ‘Shady Love’, die nacheinander kommen, aber unterschiedlicher nicht sein könnten. Ich stehe halt auf so schräge Kombinationen. Insgesamt gab es also kein größeres Konzept, nur war es dadurch auch gar nicht so einfach, den richtigen Albumtitel zu finden.”
Wenn er sein heutiges Leben mit dem von vor fünf Jahren vergleicht, erzählt Jake, dass er heute sehr viel glücklicher ist, was auch ganz deutlich auf “Magic Hour” zu hören ist: “Ich bin einfach nicht mehr so verbissen, mache mir nicht mehr so einen Kopf um alles wie früher”, kommentiert er. “Ich habe halt irgendwann gelernt, dass man viele Dinge einfach nicht so nah an sich heranlassen sollte, und dadurch bin ich heute definitiv ein zufriedenerer Mensch. Deshalb gibt es auf ‘Magic Hour’ nichts zu hören, was mit schlechter Laune zu tun hat. Es gibt da schon einen Song wie z.B. ‘The Year Of Living Dangerously’, aber da geht’s um Risikobereitschaft und darum, dass man nichts auf die Meinung anderer gibt, aber auch das ist ja kein negatives Gefühl. Die meisten der neuen Stücke fühlen sich eher wie ein Sonnenaufgang an, würde ich sagen.”
Alles in allem bezeichnet Jake das neue Album als “sehr sommerliche Platte”, auf der nicht zuletzt auch der Geist von Ibiza-Partys weht, schließlich stamme sogar der Albumtitel von der spanischen Insel, denn dort erlebten sie jene “magische Stunde” zum Sonnenaufgang, und zwar gemeinsam mit Alex von Boys Noize: “Das war so ein Moment, den ich niemals vergessen werde. Genau da wurde mir klar, dass wir zusammen etwas ganz, ganz Großes kreieren würden.”
Der erste Track von “Magic Hour”, “Baby Come Home”, klingt wie die Scissor Sisters im berühmten Studio 54; es ist ein Dancefloor-Track, der wie der Titel schon erahnen lässt von Sehnsucht und dem Wunsch nach Intimität handelt. “Ich habe so viele Nächte schon allein im Bett verbracht, so weit entfernt von dem Mann, den ich liebe. Genau um diese Sehnsucht geht es in dem Stück, um das Gefühl, das einen überkommt, wenn man allein im Bett liegt. Man kann auch Liebeslied dazu sagen.” Zugleich sei schon dieser Track mit Hilfe des wichtigsten Verbündeten entstanden: Alex Ridha. “Alex hat die Platte produziert, und ich bin wirklich wahnsinnig stolz auf ihn, weil er sich dafür immer wieder in kreative Regionen bewegen musste, die sonst nicht so sein Metier sind. Immerhin dreht sich bei ihm sonst alles um Techno, und hier musste er mit ganz anderen Sounds arbeiten. Aber ich wollte unbedingt mit ihm arbeiten, weil ich instinktiv wusste, dass er diesen Schritt perfekt hinbekommen würde.”
“Keep Your Shoes On” ist ein ausgelassener Disco-Funk-Track, fast schon wie eine Electro-Nummer aus dem Jahr 1975, nur sehr viel wärmer. In Jakes Worten klingt das dann folgendermaßen: “Der Track ist wirklich albern, echt lustig und beknackt, nur habe ich keinen blassen Schimmer, wovon er eigentlich handelt. Trotzdem liebe ich diese Nummer.”
“Inevitable”, eine Mischung (quasi wie bei Kanye) aus “808s & Heartbreak”, also Beats und Herzschmerz, entstand gemeinsam mit Co-Autor Pharrell, was man auch an der für ihn typischen Leichtfüßigkeit erkennt: “Ich war schon ganz ordentlich eingeschüchtert”, berichtet Jake über die Arbeit mit dem Neptunes-Producer. “Oder sagen wir etwas angespannt, aber mit ihm zusammen zu schreiben war einfach der Hammer. Er ist echt ein Genie und hat ein unglaubliches Gespür für grandiose Melodien.”
Die erste Single “Only The Horses” hingegen ist überdimensionaler Rave-Pop, eine Synthesizer-Hymne mit Party-Garantie, die nach einem der vielen Abenteuer des letzten Jahres entstanden ist. Co-Produzent war in diesem Fall Calvin Harris. “Als wir den Track geschrieben hatten, wusste ich sofort, dass er der richtige Mann war, um ihm den letzten Schliff zu verpassen”, so der Frontmann.
“The Year Of Living Dangerously” ist ein langsameres Stück, eine eingängige, elektronische Ballade mit Alle-Feuerzeuge-in-die-Luft-Potenzial und Jake dazu in schönster Falsett-Stimmlage, während “Let’s Have A Kiki” wie eine verlorene Aufnahme von Grace Jones klingt (aus dem Jahr 1981, sagen wir mal, aufgenommen für das legendäre Label ZE Records). “Das ist einer der besten Ana-Matronic-Songs überhaupt”, meint Jake. “Ein Club-Track, in dem es um eine ‘Kiki’ geht, also eine kleine After-Hour-Party, die erst dann stattfindet, wenn der Laden längst dichtgemacht hat.”
Mit dem bereits erwähnten “Shady Love” lassen sich Scissor Sisters dann gemeinsam mit Azealia gehen – noch so ein Singlekandidat auf einem Album, das davon etliche bereithält.
“Insgesamt zeigt dieses Album, wie sehr wir gewachsen sind”, sagt Jake abschließend, der sich zuletzt ein ganzes Jahr lang mit diversen DJs und Electro-Produzenten umgeben und ausgetauscht hat – was man auch deutlich raushören kann. “Wir haben noch nie ein Album aufgenommen, das auch nur ansatzweise so klingt wie dieses.”
Bedeutet das nun also, dass Scissor Sisters nach wie vor “die beste Popgruppe der Welt” sind?
“Auf jeden Fall!”, antwortet der Frontmann und schmunzelt. “Wir sind immer noch im Rennen, was mich echt stolz macht! Ich bin einfach nur glücklich, dass wir immer noch großartige Songs schreiben und großartige Konzerte geben, also den Leuten einfach etwas Spannendes liefern können. Das ist mir letztlich am wichtigsten, und deshalb will ich auch immer wieder musikalisch neue Wege einschlagen.”