Seit sie sich 1979 in der “Saturday Night Live”-Show erstmals dem amerikanischen Fernsehpublikum präsentierte, hat Rickie Lee Jones ihre Fans und das Musik-Establishment mit einer fesselnden musikalischen Vision, die sich stilistischen Abgrenzungen und Klassifizierungen entzieht, immer wieder auf die Probe gestellt. Gleich am Anfang ihrer Karriere erschütterte sie die Kultur der Singer/Songwriter-Zunft, indem sie sich weigerte, in die Fußstapfen der Folk-Rock-Generation zu treten, die ihr vorausgegangen war. Erfolgreich richtete sich Rickie Lee Jones stattdessen eine eigene musikalische Nische ein: mit smarten Popsongs, die oftmals Elemente enthalten, die einem Vergleiche mit dem klassischen Tin-Pan-Alley-Jazz der Prä-Bebop-Ära und dem frühen Motown-Rhythm’n’Blues erlauben. Ausgestattet mit einem eigenwilliger Sinn für Humor und einem noch erstaunlicheren musikalischen Geschick schreibt Rickie Lee Jones nun schon seit dreißig Jahren einzigartige Songs. Zehn von ihnen stellt sie nun auf ihrem exquisiten neuen Album “Balm In Gilead” vor.
Auf diesem Album, auf dem sie Geschichten ihrer Generation erzählt, erhielt sie tatkräftige Unterstützung von einigen nicht minder talentierten Freunden: Ben Harper, Jon Brion, Vic Chesnutt, Bill Frisell, Victoria Williams und Alison Krauss. “Diese Platte wurde für Leute meines Alters gemacht”, sagt Jones, die als alleinerziehende Mutter in Kalifornien lebt. “Wir sind weder jung noch alt – wir hängen irgendwo dazwischen. Wir mögen alle Arten von Musik, wir haben Lebenserfahrung. Ich komme über die Runden und kann meine Miete zahlen. Ich denke, mein Leben unterscheidet sich nicht sehr von dem vieler anderer Leute meiner Generation. Und an diese Leute, die mein Publikum sind, und nicht nur an mich selbst habe ich beim Schreiben der Songs gedacht. Wir sind älter geworden. Aber es geht hier wirklich nicht nur um mich und meinesgleichen. Es geht hier auch um unsere Kinder und um unsere Eltern, die langsam wegsterben, und um all die Dinge, die für uns in diesem Alter von Bedeutung sind. Ich möchte wirklich über uns sprechen. Für die Leute meiner Generation ist Musik der Balsam, der uns weitermachen läßt.”
“Diese Songs erzählen von meinem Leben im Westen der USA und von seinen Freuden ebenso wie vom urbanen Blues, der einen manchmal überkommt”, meint die Sängerin. Der Titel des Albums stammt aus einer Passage des Alten Testaments (genauer: aus dem Buch des Jeremia), die für einen afro-amerikanischen Spiritual adaptiert wurde. Eine Textzeile in diesem Spiritual verspricht: “there is a balm in Gilead that makes the wounded whole” (“in Gilead gibt es ein Balsam, das die Verwundeten heilt”). Über ihr neues Album reflektierend meint Jones: “Es gibt mehr Dinge, die wir alle miteinander gemein haben, als Dinge, die uns voneinander trennen.”
Zu den reizvollsten Nummern des Albums gehört sicherlich der mit Rhythm’n’Blues-Elementen durchwirkte Opener “Wild Girl”, der die alte Rickie Lee Jones, die einst mit “Chuck E.’s In Love” schlagartig die Szene eroberte, zurückzubringen scheint – nur ein wenig älter und weiser. In “The Gospel Of Carlos, Norman And Smith” nimmt die Sängerin die Rassismus, Ungleichbehandlung der verschiedenen Rassen in der Gesellschaft und die damit verbundenen tiefgreifenden Probleme aufs Korn. Das im Duett mit Ben Harper vorgetragene fast schon gospelige “Old Enough” mit seinen unwiderstehlichen Bläserriffs ist auch wieder ein klassischer Rickie-Lee-Jones-Song, während die nostalgisch-jazzige Ballade “The Moon Is Made Of Gold” klingt, als wäre sie bei einer Session von Django Reinhardt mit Madeleine Peyroux entstanden. Tatsächlich wurde das Stück aber von Jones’ Vater Richard für Rickie Lee und ihre Geschwister geschrieben, als diese noch Kinder waren.
“Das ist ein Song von meinem Daddy. Er schrieb ihn um 1954 herum und nahm ihn gemeinsam mit meinem Onkel in einer kleinen Studiokabine in einem Busbahnhof auf”, erzählt Jones mit leuchtenden Augen. “Als wir ‘The Moon Is Made Of Gold’ aufnahmen, passierte etwas Magisches. Ich hatte einen Gitarristen engagiert, der es draufhat, auf dieselbe altmodische Weise zu spielen, wie es mein Onkel tat, so à la Mills Brothers. Und als er den Song mit mir spielte, pfiff er das Solo vor sich hin. Bei der Aufnahme, die mein Dad mit meinem Onkel gemacht hat, pfiff mein Onkel das Solo. Als mein Gitarrist nun dasselbe tat, dachte ich nur: Oh Mann, sie sind hier. Es war wirklich wundervoll!”
Weitere Highlights sind das herzerweichende “Bonfires”, das herrlich atmosphärische “His Jeweled Floor” (bei dem Rickie Lee Jones alle Instrumente außer Baß und Akkordeon selber spielt) und die prachtvolle Instrumentalnummer “The Blue Ghazel”, die Rickie Lee Jones von ihrer verspielten und abenteuerlustigen Seite zeigt.
Mit ihrem Debütalbum “Rickie Lee Jones”, das sich millionenfach verkaufte und nachfolgende Künstlergenerationen inspirierte, konnte sich die Sängerin 1979 auf Anhieb in der Szene etablieren. Nach einer erfolgreichen Welttournee landete sie auch gleich auf dem Cover des amerikanischen Rolling Stone. Das brillante Debüt brachte ihr 1980 außerdem fünf Grammy-Nominierungen ein: in den Sparten “Record of the Year”, “Best Pop Vocal Performance, Female”, “Best Rock Vocal Performance, Female”, “Song of the Year” (für “Chuck E.’s In Love”) und “Best New Artist”. In der letztgenannten Kategorie wurde sie schließlich zur Siegerin gekürt.
Ihre zweite Veröffentlichung war 1981 das nicht weniger gefeierte Album “Pirates”, auf dem sie sich als Singer/Songwriter noch weiter von den vorherrschenden Standards emanzipierte. Der Rolling Stone, der Jones erneut aufs Cover brachte, gab dem Album damals die Höchstwertung von fünf Sternen. Welchen Stellenwert dieses Album noch heute genießt, machte der Musiker und Musikritiker Tom Moon deutlich, als er es 2008 in sein Buch “1000 Recordings To Hear Before You Die” aufnahm. Rickies dritte Veröffentlichung, die EP “Girl At Her Volcano”, war eine Kollektion von Jazzstandards (“Lush Life” von Billy Strayhorn und “My Funny Valentine” von Richard Rodgers/Lorenz Hart) und Popsongs (u.a. “Rainbow Sleeves” von Tom Waits und “Under The Boardwalk” von den Drifters), die Jones’ erstaunliche stilistische Bandbreite unterstrich.
1983 zog Rickie Lee Jones nach Frankreich und kehrte erst vier Jahre später wieder in die USA zurück, um dort die Arbeit an ihrem nächsten Album “Flying Cowboys” aufzunehmen. Das von Walter Becker (Steely Dan) produzierte Album enthielt u.a. den Hit “Satellite” und erschien 1989. Im selben Jahr gewann Jones ihren zweiten Grammy für eine Duettaufnahme des Klassikers “Makin’ Whoopee!”, die sie gemeinsam mit ihrem alten Freund Dr. John für dessen Album “In A Sentimental Mood” eingespielt hatte. 1991 folgte das vieldiskutierte Album “Pop Pop”, auf dem Rickie Lee Jones u.a. die beiden Jazzlegenden Charlie Haden und Joe Henderson sowie der exzellente Bluesgitarrist Robben Ford zur Seite standen. Der Bandoneón-Virtuose Dino Saluzzi verlieh dem Album zudem eine argentinische Note. Auch das Repertoire, das neben Jazzstandards wie “My One And Only Love”, “Bye Bye Blackbird” und “The Ballad Of The Sad Young Men” noch Jimi Hendrix’ “Up From The Skies” enthielt, war vom Allerfeinsten.
In den 1990er Jahren brachte sie noch die Alben “Traffic From Paradise” (feat. Leo Kottke, David Hildago & Jim Keltner), “Naked Songs – Live And Acoustic” und “Ghostyhead” heraus. Auf letztgenanntem Album wagte sie sich sogar auf das Gebiet des TripHop und der elektronischen Musik vor.
Im Jahr 2000 erschien dann das Album “It’s Like This”, das u.a. originelle Coverversionen von Steely Dans “Show Biz Kids”, Steve Winwoods “Low Spark Of High Healed Boys”, Charlie Chaplins “Smile”, dem Beatles-Song “For No One” und Leonard Bernsteins “One Hand, One Heart” featurete und Jones ihre achte Grammy-Nominierung bescherte. Nach dem Live-Album “Live At Red Rocks” (2001) und “Evening Of My Best Day” (2003) erschien 2007 schließlich “Sermon On Exposition Blvd.”.
Mit “Balm In Gilead” knüpft die mittlerweile 55jährige nun an die besten Alben ihrer Karriere an.