Ein Konzert der Band Rammstein auf Film zu bringen, für Leinwände und LED-Bildschirme, ist eine außerordentlich schwierige Aufgabe. Den gewaltigen Sound, die Menge an visuellen Eindrücken, die Details und großen Gesten so einzufangen, dass auch die Kino- oder Fernsehzuschauer die Rammstein-Experience nachempfinden können: Wer das schaffen will, muss einerseits die unmittelbare Nähe zum Bühnengeschehen vermitteln, andererseits den Blick aus der Totalen, drittens die Aufregung des Dabeiseins – und die Musik muss brachial gut klingen.
Die Dokumentation “RAMMSTEIN: PARIS” setzt hier einen neuen Maßstab. Während der “Made in Germany”-Tour drehte der gefeierte schwedische Regisseur Jonas Åkerlund im März 2012 bei zwei umjubelten Rammstein-Konzerten, die vor jeweils 17.000 Zuschauern im Palais Omnisports in Paris stattfanden. Der Film, der daraus entstanden ist, ist (mit 21 Songs aus dem gesamten Repertoire) nicht nur das bislang spektakulärste Bilddokument über die derzeit größte deutsche Rock’n'Roll-Band – er ist ein Meisterwerk des Musikkinos, das die Energie von Rammstein in ein einmaliges visuelles und sonisches Erlebnis fasst.
DER FILM
Wenn alles vorbei ist, nach 120 Minuten, klatscht man sich ein Handtuch ins Gesicht, zupft sich die Reste der verkokelten Augenbrauen aus. Massiert sich die rauchenden Ohren, fühlt den eigenen Puls und fragt sich: Was, zum heiligen Henker, war das?
Das war ein Film.
“Nur ein Film” sagt man ja manchmal, wenn man sich selbst beruhigen will. Wenn im Kino etwas zu grauenhaft wird, wenn einem die Bilder zu nahe kommen, ins Gesicht springen, wenn es körperlich wird. Bei “RAMMSTEIN: PARIS” funktioniert der alte Beschwichtigungstrick leider nicht, denn dieser Film – gedreht am 6. und 7. März 2012 in Paris, als die derzeit größte deutsche Rock’n'Roll-Band auf ihrer “Made in Germany”-Tournee zwei Abende lang im Palais Omnisports im Stadtteil Bercy spielte, brannte, donnerte – lässt wirklich alles auf seine Zuschauer niederbrechen, was sie auch in der echten Rammstein-Show am eigenen Leib spüren würden.
Eine Attacke aus Blitz und Dunkelheit. Eine Symphonie der Triebe. Ein muskulöses Date mit den Gladiatoren der Liebe. Musik. Theater. Feurige Umarmung. Wie schon oft bei dieser Band gesagt: ein Gesamtkunstwerk. Wer “RAMMSTEIN: PARIS” gesehen hat, wird nie wieder sagen, er wäre nicht dabei gewesen.
Der schwedische Regisseur Jonas Åkerlund ist ja berüchtigt für die radikalen, stilbildenden Videos, die er mit Bands wie The Prodigy‚ Metallica, den Rolling Stones und eben auch Rammstein gemacht hat. Durch seine Musikinszenierungen flackern irrwitzige Details, umgestülpte Perspektiven, Kontrast-Schocks, Sinnesverwirrungen – und in “RAMMSTEIN: PARIS” zelebriert er das von Minute eins an. Wenn sich der Bühnensteg über die Köpfe der 17.000 Zuschauer senkt, das Bild in statischen Interferenzen zuckt und surrt, man hin- und hergeworfen wird zwischen Close-up und Vogelblick. Wenn dann die sechs Helden einmarschieren, als Steampunks, Ritter, Heizer, ölige Rächer. Und die Show losbricht, der metallische Mitternachtszirkus, der große Feuerball.
21 Songs spielen Rammstein im Film, die Skala reicht von “Wollt ihr das Bett in Flammen sehen?”, dem ersten Song der allerersten Platte, bis zu “Frühling in Paris”, der herrlichen (und geografisch passenden) Entjungferungsballade vom letzten Studioalbum “Liebe ist für alle da”. Und so wie diese Band aus Berlin vor über 20 Jahren einen ganz neuen Blick, eine neue Herangehensweise an den Rock’n’Roll eröffnete – so schafft “RAMMSTEIN: PARIS” einen völlig neuen Blick auf Rammstein.
Und dieser Blick ist eigentlich ein Paradoxon: Nähe und Distanz, Panorama und Detail, oder, wie Sigmund Freud sagen würde, Da und Fort. Um Rammstein in Concert fassen zu können, muss man sie im Weitwinkel sehen, der einen die Höhe der Flammen und Dampfsäulen richtig schätzen lässt, die brachiale Mannschaftsleistung. Andererseits braucht man die unmittelbare Anschauung, die Nahaufnahme der Mimik, wenn Sänger Till Lindemann seinen Keyboarder Flake Lorenz im Topf kocht, das stumpfe Schillern von Schlagzeuger Christoph Schneiders Kettenhemd, die ganze Beinarbeit oder die Freude in den Augen den Umstehenden, wenn Flake auf der kleinen B-Stage den blanken Popo zeigt.
Es ist Åkerlunds grenzenlos irre Editing-Technik, die genau das möglich macht. Im Film sind wir Rammstein fern und nah zugleich, auf dem Geierfelsen gegenüber der Bühne und doch so eng am haarigen Herzen Till Lindemanns, dass wir blutig hineinbeißen könnten.
Und das alles auch noch in Paris, mehr als anderthalb Stunden lang. Dieser Film ist nicht nur der absolute Höhepunkt der bisherigen dokumentarischen Arbeit zu dieser Band, ein Medium, das einen viele ihrer Dimension überhaupt erst kapieren lässt. “RAMMSTEIN: PARIS” ist einer der besten Rockkonzertfilme aller Zeiten. Absolument.
DAS MAKING-OF
Die “Made in Germany 1995–2011”-Tour, auf die Rammstein von November 2011 bis August 2013 gingen, war ein monumentales Unternehmen. 78 Konzerte in Europa, 21 in Nordamerika. Im Gepäck eine Bühnenkonstruktion aus Stahl, 24 Meter breit, 15 Meter hoch, 100 Lautsprecherboxen, eine Soundanlage mit 380.000 Watt Leistung. Insgesamt 24 Trucks und 60 Crewmitglieder. Besonders sprichwörtlich: das eigene Stromkraftwerk, das die Band mit auf Reisen nimmt, um als Elektrizitätsgroßkunde nicht von wackligen lokalen Netzen abhängig zu sein.
Wer über eine solche Tournee einen Film dreht – der darf kein bisschen weniger groß denken. Das ist auch der Hauptgrund, warum “RAMMSTEIN: PARIS” erst gute vier Jahre nach den Konzerten, bei denen er im März 2012 gedreht wurde, in die Kinos und Blu-ray-Player kommt. Regisseur Jonas Åkerlund trieb den größtmöglichen Aufwand, um diese Show angemessen porträtieren zu können. Das dauert dann eben auch in der Nachbereitung ein wenig länger.
“Rammstein ist ein zeitloses Kunstwerk”, sagt Åkerlund. “Was dieser Film zeigt, war nicht nur 2012 gültig – es wird für immer relevant bleiben.”
Das gilt andersrum genau so: Der Schwede ist die Traumbesetzung für den Job. Åkerlund, einer der zugleich renommiertesten und abgefahrensten Musikvideomeister der letzten 20 Jahre, hatte mit Rammstein bereits die herausragenden Clips zu “Mann gegen Mann”, “Pussy”, “Ich tu dir weh” und “Mein Land” gedreht. “Sie sind die Art von Band, mit der man Dinge anstellen kann, die mit anderen einfach nicht gehen”, sagt er. So kommen in “RAMMSTEIN: PARIS” zum ersten Mal auf Kinolänge zwei ausgesprochen individualistische Parteien zusammen: Åkerlund, der Videokünstler mit dem irren Schnitt und den todbringenden Kontrasten. Und Rammstein, die Gruppe, deren Performance man eigentlich gar nicht filmen kann. Genau diese Kombination wirkt wie die rasant explosive Reaktion zweier chemischer Elemente.
Das Vorgehen: Zunächst studierte Åkerlund die Show. Die zwei Abende in Paris schnitt er dann mit rund 30 Kameras beide komplett mit – zusätzlich, für Close-up-Szenen, auch noch eine Generalprobe ohne Publikum. Die tonnenschwere Menge an Rohmaterial wurde dann dem speziellen Åkerlund-Treatment unterzogen: der Herstellung einer ausufernd detaillierten Schnittfassung, in der die Bilder expressionistisch changieren, ihren Gegenstand umspielen, die Überforderung domestizieren, letztendlich das Unsichtbare sichtbar machen.
“Das war alles nur möglich, weil Rammstein selbst eine so präzise Band sind”, sagt Regisseur Åkerlund. “Ihre sprichwörtlich deutsche Genauigkeit kam mir extrem entgegen.” So orchestrieren sich Musik und Bilder in “RAMMSTEIN: PARIS” auf verblüffende Art gegenseitig – zusätzlich unterstützt durch den naturgewaltigen 7.1-Kino-Soundmix, den der Rammstein-Stammproduzent Jacob Hellner verantwortet hat. Eine Premiere: So hat man diese Musik noch nie gehört. Nicht mal dann, wenn man in Paris in der ersten Reihe stand.
“Aus meiner Arbeit mit Rammstein habe ich immer auch persönlich stark profitiert”, erzählt Jonas Åkerlund. “Sie haben eine große Rolle in der Entwicklung meiner Kreativität gespielt.” Ob er den Film vor allen für die Fans gemacht hat? “Die werden ihn natürlich lieben. Aber auch, wenn du dich einfach nur für Kunst und Theater interessierst – dann kann ich dir diesen Film empfehlen!” Dass man hinterher auch noch Fan geworden ist, die Nebenwirkung soll es bei “RAMMSTEIN: PARIS” durchaus geben.
RAMMSTEIN
Das größte Kompliment für ein großes Kunstwerk? Wenn niemand überhaupt erst versucht, es zu imitieren.
Die Band Rammstein hat in den bislang 22 Jahren ihres Bestehens mehr als 16 Millionen Platten verkauft, unter anderem zehn Echo-Awards und zwei Grammy-Nominierungen erhalten, die 18.000 Plätze im New Yorker Madison Square Garden in weniger als 20 Minuten ausverkauft. Sie spielen seit Mitte der 90er-Jahre in den weltweit größten Arenen, obwohl sie weiter nur auf Deutsch singen. Seit 1997 waren alle ihre Alben mindestens in der Heimat auf Nummer eins der Charts, Regisseure wie David Lynch und Lars von Trier haben Rammstein-Songs in ihre Filme gesetzt, und 2006 wurde sogar ein Asteroid nach ihnen benannt.
Und trotzdem, obwohl Rammstein derzeit eine der größten Bands der Welt sind und die international erfolgreichsten deutschen Rockkünstler aller Zeiten – trotzdem gibt es keinen, der es zumindest probiert, das Erfolgsmodell nachzumachen, sich dranzuhängen an den Rush. Warum eigentlich nicht?
Zugegeben: Ein paar haben verschämt getestet, ob sie das R so majestätisch-guttural rollen können wie Sänger Till Lindemann. Doch das schabt nur sanft an der Oberfläche – denn Grund Nummer eins, warum Rammstein so einzigartig sind, ist ihre Geschichte. Die Wurzeln stecken im früheren Underground der DDR, in legendären Bands wie Feeling B oder First Arsch. Dann ziselierten sich die Koordinaten ihrer Kunst nach und nach zurecht, während des ästhetischen und politischen Trubels der Wendezeit, befruchtet vom freiheitlichen Anything Goes des 90er-Jahre-Pop und den neuen, globalen Möglichkeiten des Internet (die einem unter anderem erlauben, ein besonders kontroverses Video gleich auf einer XXX-Homepage debütieren zu lassen).
Was Rammstein heute bedeutet, wurde nie an irgendeinem flammenden Reißbrett entworfen. Wer es entwirren und verstehen will, muss durch ein Zeichengeflecht aus Schwarzer Romantik, der Historie der Industrial Music, Artauds “Theater der Grausamkeit”, Goethe, Houellebecq, Maschinenhorror und 500 weiteren Ideen, die wie im Kaleidoskop das Wesen einer Band definieren, wie es eben keine zweite gibt. Essenzieller Zusatz: ein schwerer Leinensack voller Inside-Jokes, die außer den sechs Recken eh keiner kapiert.
Grund zwei für die Einzigartigkeit: die vielen Gesichter. Wir haben Rammstein in über 20 Jahren als Fight-Club-Truppe gesehen, als Riesenbabys, Höllenkommando, Businesspeople, Tarantino-Charaktere, galaktische Bruchpiloten, Versuchstiere und Sexmonster. Die Verkleidung, das im besten Sinn Theatralische spielt eine zentrale Rolle im visuell und sonisch überbordenden Werk – und trotzdem haben Rammstein einen unverwechselbaren Stil, den man sofort erkennen kann. Wie sie das machen? Keine Ahnung. Und jetzt machen Sie das mal nach.
Dritter Grund: Obwohl das alles theoretisch klingt, sind und bleiben Rammstein natürlich eine Band der Unmittelbarkeit, der Präsenz, der Performance. Eine körperliche Experience, kopfüber sinnlich, am stärksten in ihren Konzerten, wenn sie selbst bestimmen dürfen, wie laut und grell sie sind – und nun in “RAMMSTEIN: PARIS”, dem ersten Film, der diese kaum fassbare Energie in Bild und Ton fasst.
Die Geschichte wird weitergehen, ganz bestimmt. Noch kann niemand sagen, mit welchen Gesichtern des Tages (oder der Nacht) Rammstein uns bei nächster Gelegenheit gegenübertreten werden. Was bisher passiert ist, ist jetzt schon ein Monument. “RAMMSTEIN: PARIS” ist die Guided Tour dazu. Bitte nicht zu weit rauslehnen. Eltern haften für Ihre Kinder. Es geht los.
Rammstein sind:
Till Lindemann – Gesang
Paul Landers – Gitarre
Christian ‘Flake’ Lorenz – Keyboard
Richard Z. Kruspe – Gitarre
Oliver Riedel – Bass
Christoph Schneider – Schlagzeug