Der Tod des King of Pop war einer der größten Schocks des Jahres 2009. Warum? Viele, nicht nur seine Fans dachten, Michael Jackson wäre unsterblich, alterslos, ein ewiger Peter Pan, ein mutierter Erzengel, der durch die Kraft seiner Musik (und ein bisschen Hilfe seiner Schönheitschirurgen) für immer jung bleiben würde. Bereits vor zehn Jahren, als er 40 wurde, stöhnte das Feuilleton entsetzt auf. Jackson: verheiratet mit Kindern, das passte vielen nicht ins Bild.
Über Prozesstermine und Skandalmeldungen vergaß die Welt, was für ein überdimensionaler Künstler Jackson gewesen ist. Schaut man sich auf Youtube den elfjährigen Leadsänger der Jackson 5 an, mit “I Want You Back” bei “Top of the Pops”, verschlägt es einem noch immer die Sprache. Der Kinderstar leuchtete von innen. Seine Mutter Katherine sagte, das siebte ihrer neun Kinder sei anders gewesen. Auch wenn sie nicht an Reinkarnation glaubte. Michael habe sich nie, auch nicht als Baby, unkoordiniert bewegt. Wenn er tanzte, sah er aus als wäre er jemand anders, viel älter" Diana Ross, die ihn 1968 bei einem Auftritt im Apollo-Theatre von New York entdeckte, sah in Michael ein “merkwürdiges und liebenswertes Kind, eine alte Seele im Körper eines Jungen.”
Michael Jackson kam 1958 in Gary, Indiana zur Welt, nur Wochen trennen seine Geburt von der Madonnas und Princes – Jacksons größte Gegenspieler. Michael übernahm schon im Kindergartenalter die Führung der Jackson 5. Der Vater, Joe Jackson, von Beruf Kranführer, davor Gitarrist in der R&B-Band The Falcons, wurde ihr Manager und Coach. Autoritär und gewalttätig war seine Führung der Jungs.
Bruder Tito behauptet, die Tanzschritte Michaels hätten sich aus der Fußarbeit entwickelt, die er benutzte, um den Schlägen seines Vaters auszuweichen. In einem Interview mit MTV versuchte Joe Jackson 2003 abzuwiegeln: Das alles wäre ja nur zu Michaels bestem gewesen, hätte aus ihm “einen der größten Künstler der Welt gemacht”. 1969, als “I Want You Back” die Nummer 1 der US-Charts knackte (wie die drei folgenden Singles der Jackson 5), gab es den Begriff “dysfunktionale Familie” noch nicht im amerikanischen Vokabular, auch nicht bei den Zeugen Jehovahs. “Er sang seine Songs mit so viel Feeling, Inspiration und Schmerz, als hätte er alles, wovon er sang, wirklich selbst erlebt”, erinnert sich Motown-Chef Berry Gordy an das Kind Michael Jackson. Wenn ein Kind darauf trainiert wird, die Passion und Erotik Erwachsener auf der Bühne zu repräsentieren, was passiert, wenn später die Hormone wirklich in Wallung geraten? Der Preis des Erfolgs war seine Kindheit. Doch das Los der meisten Kinderstars teilte er nicht. Auch nach dem Stimmbruch ging es für ihn weiter. Als die Karriere der Jackson 5 (später Jacksons) den Bach runter ging, trat Michael als Solokünstler ins Rampenlicht. Als die furiose, aufregende, von Quincy Jones produzierte Single “Don´t Stop (´Til You Get Enough)” herauskam, im Spätsommer 1979, war klar: Michael Jackson wird ein Superstar. Der stromlinienförmige R&B-Pop seines Solodebüts “Off The Wall” stellte die Weiche von Disco in den Dance-Pop der 1980er. Flankiert von Prince und Madonna sollte Jacko die Dekade “thrillen”. Kein Album hat je einen Künstler derart in die Stratosphäre katapultiert. Zündfunke war Jacksons 1983er Jahrhundertauftritt bei “Motown 25: Yesterday, Today, Forever”, der TV-Show zum 25. Jubiläum von Motown-Records, wo er “Billie Jean” sang und dabei seinen unvergesslichen “Moonwalk” uraufführte. John Swenson vom “Rolling Stone” bemerkte, dass Jacksons Choreographie nicht mehr “physisch” sei – wie die von James Brown – sondern “metaphysisch, eine graziöse Illusion”. Den Vogel schoss dann das 16minütige, von John Landis (“The Blues Brothers”, “American Werewolf”) gedrehte Video von “Thriller” ab, mit dem Michael MTV eroberte und den Mini-Blockbuster im Pop etablierte. Ohne diese Performances wäre “Thriller” niemals zum erfolgreichsten Album aller Zeiten avanciert.
Aber auch all das hatte seinen Preis. Die Cover von Jacksons Alben der ´80er dokumentieren eine menschliche Tragödie: “Off The Wall” zeigt einen wunderbar gut aussehenden, strahlenden Afro-Amerikaner (danach hätte Jackson keine weiteren Skalpellritter ranlassen sollen). Auf “Thriller” sieht man bereits einen androgynen, unnahbaren Künstler, von heute aus bleibt er noch im Rahmen von Beyoncé, 50 Cent und Co. (immerhin gab es damals kein Photoshop). “Bad” zeigt Jackson bereits als den asexuellen Über-Teenie eines Manga-Comics, dessen Antlitz dann zeitweise dem des “Jokers” aus “Batman” ähneln sollte. (Als Junge hatte sich Michael jeden Samstagmorgen selbst als Cartoon-Figur im Fernsehen angesehen.) Zwischen den drei Alben hat sich seine Haut dramatisch aufgehellt. Schon 1987, im Zeitalter des Public Enemy-Albums “It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back” wertete man seine angebliche Pigmentstörung als Verrat. Während der Hip Hop mit seiner Gesellschaftskritik am Amerika Ronald Reagans die weißen Vorstädte eroberte, bekam Jackson das Stigma des schwarzen Spießers. “Bad” trat direkt gegen Princes wegweisendes “Sign of the Times” an. Jacko blieb zwar der King of Pop, aber seine Alben der 90er hatten nicht annähernd die Bedeutung des kolossalen LP-Triumvirats von “…Wall”, “Thriller” und “Bad”. Als der Britpop von Oasis und Pulp weltweit das Ruder übernahm, verlor die Musikpresse Jackson aus den Augen. Die Tabloids übernahmen ihn, stießen sich an ihm gesund: am Sauerstoffzelt, dem Schimpansen mit den Jacko-Klamotten, den Kindern von Neverland, Lisa Marie Presley, dem aus dem Hotelzimmerfenster gehaltenen Baby, den Schulden, dem Scheich. Nach Jahren meldete er sich 2009 aus der Versenkung, mit konkreten Plänen für ein Live-Comeback mit fünfzig Konzerten, unter anderem in Londons O2-Arena. Die Proben waren in vollem Gange, als Michael Jackson am 25. Juni 2009 in seinem Haus in Bel Air an Herzstillstand starb, verursacht durch die Einnahme von Psychopharmaka und Schlafmitteln. Jacksons Lebens- und Leidensweg ist eine US-amerikanische Tragödie. In einem Land, das afroamerikanische Sänger und Sportler wie Götter verehrt (jüngstes Beispiel: Tiger Woods), konnte er früher oder später nicht mehr das Ideal erfüllen, der Fehltritt war vorprogrammiert.
2008 nahm man “Thriller” (das 1984 für 12 Grammys nominiert war, von denen es 8 gewann) in der Grammy Hall of Fame auf. Über 110 Millionen Exemplare hat das Album verkauft, es ist mit Abstand der größte Bestseller der Popgeschichte. Manche finden das überbewertet. Wie gut klingt “Thriller” heute? Immer noch verdammt gut. Songs wie “Wanna Be Startin´ Something”, “Beat It” und “Billie Jean” haben ihren festen Platz im American Songbook, leben via Sample und Reinterpretation (von Rihanna, Coldplay, Fall Out Boy und so vielen anderen) weiter. Faszinierend, aber von vielen immer noch nicht entdeckt sind dagegen die drei Soloalben Jacksons auf dem Motown-Label: Den Titeltrack seines von Willie Hutch produzierten Solodebüts “Got To Be There” kennt man immer noch besser in der Version von Chaka Khan. Michaels zweites Album “Ben” untermalte den gleichnamigen 1972er-Film, ist state-of-the-art cinematografischer Balladen-Soul auf dem Höhepunkt der Blaxploitation-Soundtracks. Für sein drittes Album gab Produzent Brian Holland dem 16jährigen eine Soundpalette zwischen Barry White und den Ohio Players in die Hand.