Man könnte sich diesem
Album mit semiwissenschaftlichen Mitteln nähern, um seine Wirkung zu beschreiben. Erstmal alle 15 Titel der “Artist Cut”-Deluxe-Edition anhören und dann in jeder weiteren Runde den am wenigsten favorisierten streichen, bis nur noch der Spitzenreiter übrig bleibt. Vermutlich wäre das in den meisten Fällen “
Preacherman”. Vermutlich. Und während man den dann am Ende hört, wächst die Sehnsucht nach all den anderen. Langsam. Quälend. Unaufhörlich. Zwar waren von der hinreißenden Amerikanerin auch bisher keine Fehlgriffe und so gut wie keine mittelmäßigen Songs bekannt.
Was
Melody Gardot allerdings mit “
Currency Of Man” gelungen ist, darf getrost als ein fragiles Wunderwerk bezeichnet werden. Attribute, mit denen man sparsam umgehen sollte, hier aber treffen sie den Nagel auf den Kopf. Was als erstes auffällt, sind der enorme Weißraum und die stoische Ruhe bis hin zu lethargischer Gelassenheit, mit der die 30-Jährige ihre jüngsten Songs wie aus dem Bodennebel aufsteigen lässt. Umgarnt von schwülen Bläser-Arabesken und schleppenden Gitarren-Akkorden, die sich fein gesponnenen Arrangements an die Fersen heften, wird Gardot hier zur modernen
Marie Laveaux, der legendären Louisiana-Hexe des 19. Jahrhunderts, einem Pendant der slawischen Baba Jaga.
Ihre Songs verschlingen den Zuhörer wie alte Südstaaten-Mythen, unerklärlich und faszinierend. Wüssten wir nicht, dass kein Allan Toussaint, kein Bo Dollis und nicht einmal Dr. John “The Night Tripper” seine genialischen Finger im Spiel hatte, wir hätten auf jeden Fall auf dieses Produzententeam gewettet. Des Letzteren geheimnisvollstes, düsterstes und vielleicht bestes Album “The Sun, Moon & Herbs” von 1971 klingt zwar anders als Melody Gardots jüngstes Werk, besitzt aber eine ähnliche Sogkraft und Atmosphäre. Einmal gehört, niemals vergessen. Musik, die nachts durch die Träume irrt, mal als Narkotikum, häufiger aber als dunkle Ahnung tiefer Abgründe.
Die Frage, ob diese Musik Jazz genannt werden darf, stellt sich zum Glück in keiner Sekunde. Sie ist ungeheuer gut, das genügt uns. Und damit kurz zurück zum besagten Favoriten “Preacherman”. Der Song bricht über den Hörer herein wie eine Naturgewalt, paralysiert, macht lächeln und schaudern zugleich. Gardot singt wie von einem anderen Stern, die Gitarre knarzt wie die von Marc Ribot hinter Tom Waits, man weiß irgendwie nie genau, ob dieser unglaubliche Song einen gerade aus dem Paradies vertreiben oder in selbiges locken soll.
Vorsicht scheint ebenso geboten wie Hingabe. Beschäftigt man sich allerdings mit dem Liedtext und dem dazugehörigen Video, das einem Kino-Epos in Kurzform gleicht, ist die Antwort klar. Das Paradies wird hier nicht besungen, im Gegenteil. Und auch bei den anderen Liedern des Albums lohnt sich ein Blick ins Booklet und hinter die Kulissen – es ist nicht die schöne Welt, die Melody Gardot hier besingt, es ist vor allem die wahre Welt, in der es Liebe und Hingabe gibt, aber auch das Alter, die Armut und Obdachlosigkeit, den Rassismus. Und diese Welt kommentiert sie in unvergesslichen Songs.
Bei uns läuft gerade Runde 14 des anfangs beschriebenen Streichlistenspiels, zum mittlerweile dritten Mal. Und sicher nicht zum letzten Mal. Im Moment heisst der Favorit “Once I Was Loved”. Unbedingt anhören.