„Ich hab echt lang und intensiv darüber nachgedacht, was für einen ersten Eindruck dieses Album hinterlässt“, sagt Melissa Etheridge über den Titelsong von The Medicine Show, ihrem kommenden Album, das am 12. April 2019 bei Concord Records erscheint. Das Stück sei schließlich „vollkommen anders als die anderen Songs der LP“, gibt sie zu bedenken. „Und doch beschreibt es einfach perfekt, an welchem Punkt ich persönlich momentan stehe. Es sollte einfach richtig knallen: BÄM – ich bin zurück!“
Und es knallt in der Tat: Nachdrücklicher kann man ein Album kaum einläuten: die Gitarren sind bis zum Anschlag aufgedreht, das Schlagzeug lässt es krachen. Auch Melissa Etheridge präsentiert sich fast schon marktschreierisch und trommelt erst mal ihre Leute zusammen: „Let’s all go to the medicine show!“
Medizin? Heilmittel? Etheridge redet nicht lange um den heißen Brei herum. Würde auch nicht passen zur Musik. „Der Albumtitel The Medicine Show sagt doch alles! Schon damit stelle ich klar, dass es um Gesundheit, um Wohlbefinden, um Cannabis, um diesen ganzen neuen Ansatz, diesen Paradigmenwechsel geht. Jeder Song des Albums ist von diesem Thema durchzogen. Wir haben endlich keine Angst mehr davor – so weit haben wir es schon geschafft!“
Anders gesagt: Es geht ihr um Erneuerung, um Versöhnung, und vor allem um Heilung. „Ja, vor allem darum: um Heilung!“, so Etheridge. „Persönliche Heilungsprozesse, staatliche Heilungsprozesse, menschliche Heilung…“. Genau genommen hat sich Melissa Etheridge seit ihrem Karrierebeginn in den späten Achtzigern immer wieder mit derartigen Themen befasst. Ein Ansatz, der ihr zwei Grammys (bei stolzen 15 Nominierungen) bescheren sollte. Obendrein einen Oscar für „I Need To Wake Up“ (aus Al Gores Dokumentarfilm Eine unbequeme Wahrheit über den Klimawandel). Menschenrechte, mehr Rechte für die LGBTQ-Gruppen, mehr Bewusstsein für Brustkrebs, mehr Offenheit für alternative Heilmittel – alles ihre Themen.
Auf ihrem kommenden 15. Studioalbum verschnürt sie diese persönlichen Anliegen so kunstvoll und eindringlich wie nie: „Human Chain“ kommt mit klassischem Memphis-Soul-Vibe daher, und der Schlusstitel „Last Hello“ verneigt sich mit einer emotionalen Komposition vor den Überlebenden des Schulmassakers von Parkland. Mit ihrem Kernthema – Heilung, Genesung, Wege zu einem besseren Leben für viele – knüpft sie ganz direkt bei den beiden Vorgängeralben an, This is M.E. (2014) und dem ausgelassenen Stax-Abstecher Memphis Rock and Soul. „Ich fand die letzten Jahre so toll, die vielen Tourneen mit so vielen unterschiedlichen Bands, und als ich mich dann Ende 2017 hinsetzte, sagte ich mir: ‘Eigentlich will ich genau das machen, was ich immer getan habe: In mich reinhören, darauf basierend neue Songs schreiben und sie dann einfach aufnehmen.’“
Ganz auf sich alleine gestellt in einem kleinen Kellerstudio in Nashville schrieb sie zunächst die Musik.
11 neue Songs. Dann folgten die Texte, die sie zu Hause verfassen wollte. „Seitenweise, das hab ich schon immer so gemacht.“ Persönliche Ängste und kollektive, politische Probleme kamen da zusammen: „Shaking“ handelt von der Sorge um die Nation, „Here Comes The Pain“ dreht sich um den Missbrauch von Opioiden in Nordamerika; während „Human Chain“ oder die Hymne „Love Will Live“ eher den Gegenpol bilden, ganz klar auf Hoffnung und Besserung setzen.
Nachdem ihr einen Monat später auch ihr langjähriger Freund und Produzent John Shanks wieder über den Weg laufen sollte, stand schon bald der Plan für die nächsten gemeinsamen Aufnahmen. Etheridge gab im Studio nicht nur am Mikrofon den Ton an, sondern spielte auch alle Leadgitarren-Parts ein – vom „Alte-Schule-Liebeslied“ „Suede“ bis hin zum explosiven „Love Will Live“. Unterstützung bekommt sie dabei von Schlagzeuger Victor Indrizzo, Bassist Chris Chaney und Keyboarder Max Hart. Während ein Großteil der Songs live im Studio eingespielt wurde, steuerte Produzent Shanks selbst noch hier und da eine Gitarre bei und setzte z.B. für die Ballade „I Know You Know“ auf Streicher-Parts, die aus der Feder von David Campbell (Barbra Streisand, Paul McCartney, Adele, Beyoncé, Maroon 5, Beck etc.) stammen.
Auch „Old-School-Melissa“ kann man auf dem Album hören: Der Song „Wild and Lonely“ handelt von dem Wunsch, Routinen auszuradieren, stattdessen einen eigenen, ungewöhnlichen und einzigartigen Weg zu gehen. „Heute macht es mir sogar Spaß, mit meinem alten Ich zu spielen. Die 57-jährige Melissa wirft einen Blick auf die alten Ängste und Wünsche. Der Song handelt vom Unterwegssein, von diesem Hunger, davon, immer etwas Neues zu wollen.“
„Insgesamt war mir wichtig, dass das Album einen eigenen Sound, ein eigenes Feeling hat“, sagt sie weiter. „Und ‘Wild and Lonely’ bringt diesen Sound für mich schon sehr gut auf den Punkt. Ich wollte ein Schlagzeug wie bei Mick Fleetwood: Also legst du deine Geldbörse auf die Snare und es klingt thud thud thud. Fantastische Arbeit von John und Victor, denn das war genau der Sound, der mir vorschwebte.“
Über diesen Klängen packt sie sofort aus: „Betrachten wir doch mal, wie du diese letzten zwei Jahre so verlebt hast, und reden einfach darüber, schauen, ob es da Parallelen gibt. Das ist der Punkt, an dem man eintaucht in dieses Album.“ Eintaucht in die Ängste und Sorgen unserer Zeit: „A laugh or a scream, everything’s extreme“, heißt es treffend im Text von „Shaking“, ein Song, der vom Unglauben nach der Präsidentschaftswahl handelt.
Genauso wichtig wie das Artikulieren des Status quo ist ihr der Blick in die Zukunft – der angestrebte Heilungsprozess. Das Wiederfinden der Balance. Der Song „Human Chain“ mit seinem beseelten Memphis-Einschlag, seinem fast schon sakralen Nachdruck, seinen satten Gitarren zeigt das vielleicht am deutlichsten…
„Als der ganze Wahnsinn richtig losging im Jahr 2017, als der Rassismus und der ganze Hass schlagartig sichtbar wurde, sah ich plötzlich überall diese kleinen Randnotizen, kleine Anekdoten“, sagt sie abschließend. „The Human Chain“ sei so ein Beispiel: Inspiriert von einer Menschenkette, die spontan im Meer gebildet wurde, um einen Fremden aus Seenot zu retten. Da dachte ich nur: Das zeichnet uns Menschen aus! Wir haben so viel Mitgefühl und Liebe, und diese Gefühle sind viel stärker als der Hass.“
Melissa Etheridge live 2019
1.3.19 Stuttgart – Beethovensaal
3.3.19 München – Muffathalle
4.3.19 Hannover – Capitol
5.3.19 Hamburg – Mehr! Theater am Großmarkt
7.3.19 Leipzig – Haus Auensee
8.3.19 Berlin – Tempodrom
9.3.19 Düsseldorf – Mitsubishi Electric Halle