Somalia. Ein Wort, bei dem man unweigerlich an grausame Zerstörung, brutale Kriegsherren und Schreckensszenarien denkt, die sich kaum in Worte fassen lassen. Vor dem inneren Auge erscheint ein Ort, wo wirklich niemand – nicht einmal Kinder, Alte oder Geistliche – vor den Gräueltaten des Kriegs sicher ist, und wo der Begriff “Kindheit” zwar durchaus für den ersten Lebensabschnitt steht, nicht aber für all das, was man gewöhnlich in Europa damit verbindet. Schließlich laufen in Somalia schon Achtjährige mit Maschinengewehren herum, anstatt sich mit Spielzeug die freien Nachmittage zu vertreiben. Als das Forbes Magazine vor einiger Zeit die Liste der “gefährlichsten Orte der Welt” veröffentlichte, landete Somalia noch vor dem Irak und Afghanistan auf Platz #1…
Dabei ist Somalia zugleich auch “die Nation der Dichter” und somit ein Ort, an dem ein Gedicht Frieden stiften und Kriege beenden kann. So werden auch hier Woche für Woche Theaterstücke aufgeführt und Konzerte gegeben – ein zweites Somalia also, von dem die Medien weitaus seltener berichten.
Genau zwischen diesen beiden Welten, diesen zwei Gesichtern Somalias, ist K’naan, bürgerlich Kaynaan Warsame, aufgewachsen. Als Enkel von Haji Mohamed, einem der berühmtesten Dichter des Landes, und Neffe der international berühmten Sängerin Magool, hat der 31-jährige Musiker und Rapper seine ganz eigene Mischung aus Reggae, Funk, Pop, Soul und HipHop geschaffen. Wie unvergleichlich diese Mischung ist, zeigt er auf seinem zweiten Album “Troubadour”, das am 25.06. erscheint.
Die neue LP überzeugt mit eklektischer Vielfalt und musikalischem Feingefühl: Größtenteils in den legendären Tuff Gong Studios sowie in Bob Marleys ehemaligem Privatstudio in Kingston, Jamaika aufgenommen, zu dem K’naans Freunde Stephen und Damian Marley den Schlüssel hatten, hat er einen HipHop-Meilenstein geschaffen, der sich mit nichts vergleichen lässt. Aus Samples und Live-Instrumenten kreiert er einen Sound, in dem traditionelle afrikanische Melodien auf klassische HipHop-Elemente treffen – und zusammen etwas vollkommen Neues ergeben.
“Mittelmäßigkeit interessiert mich nicht”, sagt der Rapper. “Für mich muss Musik bedeutsam sein, sonst gibt sie mir nichts. Wenn ich nichts zu sagen hätte, würde ich einfach meine Klappe halten.” Zum Glück hat er jedoch jede Menge zu sagen: Ganz gleich, ob er die Folk-Gitarre auspackt oder diejenige Hammond-Orgel einsetzt, die schon auf Bob Marleys “Exodus”-Album zu hören ist, gelingt ihm stets der Balanceakt zwischen ernsthaften Rückblicken in Kindheitstage und wortgewandter Prahlerei à la Big Daddy Kane, mit der er direkt an die “Heydays” der frühen Neunziger anknüpft. Diese gelungene Gratwanderung war es auch, die K’naan schon für sein Debütalbum “The Dusty Foot Philosopher” nicht nur einen Juno Award (das kanadische Pendant zu den Grammys) in der Kategorie “bestes Rap-Album des Jahres” bescherte, sondern auch eine Auszeichnung von BBC Radio 3 und eine Nominierung für den Polaris Music Prize (dem kanadischen Shortlist Music Prize, wenn man so will).
Es wäre nahe liegend, K’naan allein aufgrund seiner Herkunft als “politischen Rapper” abzustempeln. Doch wäre das nicht nur zu einfach, sondern auch schlichtweg falsch: Seine Texte haben nichts mit dem gemeinsam, was manche Rapper von sich geben, die ihr Mikrofon mit der Kanzel verwechseln und wie astreine Prediger den Zuhörern unbedingt ihre Ansichten eintrichtern wollen. Es sind keine musikalischen Leitartikel; dann schon eher gut recherchierte Storys, die auf der Titelseite einer Zeitung landen würden. “My job is to write just what I see/So a visual stenographer is who I be”, lautet eine Zeile aus “I Come Prepared” – ein sachlicher Reporter also, der visuelle Eindrücke festhält und kommuniziert. Gewiss hat auch er seine Ansichten, aber auf “Troubadour” steht das Songwriting ganz klar an erster Stelle; Predigten sind allenfalls zweitrangig.
Während seiner Kindheit kam K’naan laut eigener Aussage so gut wie gar nicht mit westlicher Musik in Kontakt – er kannte “nur Bob Marley und Tracy Chapman”, wie er berichtet. Nachdem der 10-Jährige jedoch im Auto des Freundes einer Cousine ein paar Takte irgendeines Rap-Tracks gehört hatte, war es um ihn geschehen – da konnte die Soundqualität noch so schlecht sein. “Ich hörte eine Strophe, die sich reimte, aber ich hatte keine Ahnung, was das eigentlich sein sollte”, erinnert er sich. “Dann berichtete ich meinem Vater davon, der nach New York gegangen war, um Geld für unsere Familie zu verdienen, und er sagte nur: ‘Das war HipHop, was du da gehört hast.’”
Als wenige Wochen später das “Paid In Full”-Album von Eric B. & Rakim in der Post ankam, lernte K’naan eine vollkommen neue Welt kennen: Eine Welt, in der Rhythmen und Sprachgefühl alles waren. “Ich lernte ‘Eric B. is President’ auswendig, und ich konnte den Track genau wie Rakim rappen”, berichtet er. “Normalerweise stand ich vor unserem Haus, und die ganzen Kinder aus der Nachbarschaft konnten zuhören. Dann schnappte sich irgendein Junge ein paar Stöcke und machte einen Beat. Keiner von uns, ich eingeschlossen, hatte auch nur einen blassen Schimmer davon, was die Worte eigentlich bedeuten sollten. Stattdessen verließ ich mich voll und ganz auf den Rhythmus und das Gefühl, diese Energie, die dieser Track hatte. Zugleich wusste ich dadurch schon, wie die Sprache klingen musste, als ich dann irgendwann richtig Englisch lernte.”
Meilensteine wie “Paid in Full” waren es auch, die K’naan zumindest für den Moment vergessen ließen, dass um ihn herum Waffen abgefeuert wurden und ein Blutbad das nächste jagte. Er war gerade mal 14, als Warlords ihn und drei seiner Freunde angriffen – gewiss nur eines von unzähligen Bildern, die sich während seiner Jugend in die Erinnerung einbrannten. Nach einer Verfolgungsjagd durch die Straßen von Mogadischu waren die vier Jungs schließlich in einer kleinen Gasse eingekesselt, und die Männer begannen auf sie zu schießen. K’naan selbst blieb unverletzt; doch seine drei Freunde wurden brutal umgebracht.
Traumatische Erlebnisse wie dieses glorifiziert der Rapper keineswegs auf “Troubadour”; er hat es nicht nötig, derartige Geschehnisse übertrieben zu schildern, um irgendwelche Effekte zu erhaschen. “Natürlich gibt es viele Menschen, die in den US-amerikanischen und kanadischen Großstadtghettos leben und denen es richtig mies geht; aber in Somalia ist das Leben so viel schwieriger und das Gewaltproblem ist noch viel, viel größer”, meint K’naan. “Wer sich sagt ‘Hey, ich bin aus den Slums. Uns geht’s mies. Wir haben Knarren’, der sollte dabei auch bedenken, dass das alles auch noch ganz anders aussehen könnte. So gesehen spreche ich natürlich die klassische Sprache des HipHop, in der sich alles um das Leben in harten Gegenden dreht. Doch wenn wir schon von harten Gegenden sprechen, dann haben wir es hier mit der Mutter aller harten Gegenden zu tun.”
Besorgt über die Zukunft ihrer Familie, ging K’naans Mutter jeden Tag zur US-Botschaft in Mogadischu, um das ersehnte Visum zu bekommen und dem Schrecken zu entkommen. Tag für Tag bekam sie eine Absage, ließ aber nicht locker, und schließlich gelang es ihr, am letzten Tag vor der Schließung der Botschaft die Einreisegenehmigung zu ergattern. “Ein unbeschreibliches Gefühl war das”, sagt K’naan. “die ultimative Erlösung. All diese Hoffnungen, die man mit sich herumgeschleppt hatte, und dann wurde dieser Traum vom einen auf den anderen Tag Wirklichkeit. Ehrlich gesagt hat sich meine ganze Weltsicht dadurch verändert: Erst da war mir klar, wie wertvoll das Leben doch eigentlich ist.” Mit nur wenig Hab und Gut und ohne jede Englischkenntnisse nahmen K’naan und seine Familie den letzten regulären Flug von Mogadischu nach New York City, woraufhin sie sich in Toronto niederließen…
“Troubadour” ist das Ergebnis dieser Erfahrungen und geht zugleich weit darüber hinaus: Da K’naan die letzten Jahre so gut wie pausenlos auf Tour war und seine Message den Leuten persönlich überliefert und dabei musikalisch an Größen wie Bob Dylan, Fela Kuti und Mos Def angeknüpft hat, funktioniert sein zweites Album wie das vertonte Manifest eines Künstlers, der extrem viel zu sagen hat. Und von dem man in den kommenden Jahren noch sehr viel mehr hören wird. All denjenigen, die behaupten, dass in der HipHop-Welt nichts Spannendes mehr passiert, beweist er, dass es nur darauf ankommt, wohin man seinen Blick richtet…