Am 05. Oktober wäre der „König der Vorleser“ 90 Jahre alt geworden.
Den Jazz im Nacken, das Mikrofon vor dem Mund – dann wird vorgelesen. Jazz trifft auf Lyrik beim Südwestrundfunk. Der Jazz kommt von der Platte, das Wort von Gert Westphal, live, im Radio der 50er Jahre. Dann, wenig später, weichen die Platten echten Musikern, Jazzkoryphäen, die nun im Radio spielen, während Westphal ihnen immer wieder in die Musik fällt, um zu lesen: Gottfried Benn, Heinrich Heine oder Magnus Enzensberger. Seine Stimme trägt die Worte der größten deutschen Dichter und Schriftsteller von der Radiostation hinaus in Wohnzimmer, Küche und Auto. Er macht das Radio zum Straßenfeger und ist auch selbst Radiomacher – als Hörspielleiter bei Radio Bremen und beim Südwestrundfunk. Der Durchbruch als Vorleser gelingt ihm 1963 mit seiner Lesung von Joseph und seine Brüder (Thomas Mann) für den Norddeutschen Rundfunk. An 28 Abenden sendet er seine Stimme für Manns Tetralogie in die Republik hinaus. Bis zu eineinhalb Stunden dauert eine Lesung. Das Pilotprojekt wird so erfolgreich, dass der Fischerverlag eine neue Buchausgabe auf den Markt bringt. Über 200 Texte der Weltliteratur hat der von der Wochenzeitung Die ZEIT gekrönte „König der Vorleser“ aufgenommen.
Gert Westphal wird 1920 in Dresden geboren. Seine Liebe zur Literatur erwächst schon in jungen Jahren, als er Rainer Maria Rilke für sich entdeckt. Westphal ist kein Märchenonkel, der ein zufälliges Buch aufschlägt. Er wählt seine Lesewerke sorgfältig aus, studiert die Worte, ehe er sie vorträgt. Als Schauspieler weiß er zu spielen und zu sprechen. Mehr als 20 Jahre ist er Teil des Ensembles des Züricher Schauspielhauses. Doch schlägt sein Herz so laut und aufrichtig für die Literatur, dass es ihm ein Leichtes ist, die Menschen zu begeistern. Er gibt den alten geschriebenen Worten eine Stimme und transportiert all die Nuancen menschlicher Irrungen, Wirrungen, Freuden und Leiden, welche die Figuren aus den Büchern durchleben, über das Mikrofon. Er saugt sie auf, die alten Zeilen, interpretiert sie auf seine Weise und macht sie lebendig. Beim Hörer wächst so eine leise Ahnung, warum es einen Fontane oder einen Mann antrieb, zu schreiben.
Westphal wird mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt. Er erhält beispielsweise den Deutschen Schallplattenpreis, das Goldene Grammophon oder den Literaturpreis des Kantons Zürich. „Des Dichters oberster Mund“, diese Ehrung kommt von ganz oben. Denn das sagte Katia Mann, die Ehefrau von Thomas Mann, über den Sprecher. Westphals Erfolg hat gezeigt, dass die Menschen bereit sind, sich Geschichten erzählen zu lassen. Vor allem wie er sie erzählt, macht ihn zum Vorbild für viele, die nachrückten. Seine Erzählstimme, seine Sprechkunst hat ein ganzes Medium geprägt. An der Geburt des Hörbuchs trägt er einen entscheidenden Anteil. Viele Jahre – zum Teil Jahrzehnte - sind vergangen, seit er die Werke von Tolstoi, Fontane, Storm oder Flaubert aufnahm und sie einem breiten Publikum nahebrachte. 2002 starb der „König der Vorleser“ in Zürich. Der Literatur bleibt Westphal auch im Tode noch verbunden. Denn das Grab des Vorlesers liegt nahe einem Wegbegleiter, dessen Werke er zeitlebens bewunderte. Er wurde neben Thomas Mann beigesetzt.