Können Neo-Soul-Göttinnen Auszeiten nehmen? Nicht im heutigen Musikbusiness, denn sofort springt eine Kopie auf den Thron. Die Aufmerksamkeitsspanne unseres Millenniums ist verdammt kurz und der Hunger nach neuen Gesichtern groß? Die schönste Ausnahme dieser traurigen Regel wurde 1997 als Erykah Badu berühmt. Ihr Sound hat ein Genre geprägt. Ihre Macht über die Männer ist legendär. Indes, die Dame aus Dallas hat ihre Philosophie auf einem neuen Alben mit dem Titel “New Amerykah” – dem ersten einer ganzen Serie – gründlich remixt. Aus der Frau mit der Stimme zwischen Billie Holiday und Chaka Khan wurde “das analoge Mädchen in einer digitalen Welt”.
Badu ist “echt davon gelangweilt, was gerade passiert – einfach nur eine CD zu veröffentlichen und dann vielleicht noch eine DVD hinterher zu schießen, mit Bonusmaterial, das reicht alles nicht mehr. Das bekommt man heute auf YouTube. Schließlich schreiben wir weder 1955 noch 1975, und selbst das Jahr 1995 ist schon lange her.” Nach ihrer letzten CD “Worldwide Underground”, die 2003 erschien, dachte sie, dass es mit ihrer Karriere als Sängerin vorbei wäre. “Es kam nichts mehr, wenn ich mich hinsetzte, um etwas zu schreiben. Ich bezweifelte, dass ich noch kreativ sein konnte”, sagte sie im Februar einem Journalisten vom Dallas Observer. Hatte die Muse sie verlassen? Badu war daran gewöhnt, dass ihr die Ideen zufielen, dass sie aus ihr heraus sprudelten, wenn sie einfach nur einen Instrumental-Track anhörte, der auf ihre Lyrics wartete. Nichts mehr. “Als das so aufhörte, dachte ich, OK, das war´s. Ich habe meinen Songwriter-Zenith überschritten.” Nicht, dass ihre Schreibhemmung, ihr Ideen-Defizit der ersten Rap-Lady eine wirkliche Identitätskrise beschert hätten. Badu hat auch sonst noch genug zu tun: zum Beispiel mit ihrem Modelabel Cleva Seven. Im Juli lanciert sie das Lifestyle-Magazin “Freaq”. Sie kümmert sich um ihr Plattenlabel Control Freaq und wird das Gesicht der nächsten Vogue-Kampagne. Genau wie ihr früherer Lebensgefährte Common hat die Schauspielertochter ihre Karriere zwischenzeitlich auf die Leinwand verlagert (“Blues Brothers 2000”, “House Of D”). Mutter ihres siebenjährigen Sohnes Seven (Vater: Andre 3000 von Outkast) und ihrer dreijährigen Tochter Puma (Vater: The D.O.C.) ist sie außerdem. Und überhaupt hat es die Charismatikerin mit ihren Albumveröffentlichungen nie besonders eilig gehabt. Seit ihrem erdbebenartigen Debüt “Baduizm” von 1997 hat Badu einfach nur zwei Studioalben, ein Livealbum und eine EP veröffentlicht. Ihr übersichtlicher Output hat der Diva dennoch vier Grammys eingebracht (einen davon für ihren Song “You Got Me” vom Roots-Album “Things Fall Apart”) und er hat sich natürlich Millionen- und Abermillionen Mal verkauft. Also immer mit der Ruhe.
“Wenn du so eine Schreibhemmung hast, bist du in einem Prozess, in dem du Information herunter lädst”, erklärte Medulla Oblongata (wie sich Badu auch nennt) im Interview. “Es ist dann nicht nötig für dich, selbst etwas zu sagen, jemand anders redet und du hörst zu.” In dieser Zeit schickten ihr verschiedene Produzenten: 9th Wonder, Madlib, Sa-Ra, Freaquency oder Jah Born immer wieder Tracks, um Frau Low Down Loretta Brown (wie sie sich auch nennt) neu zu inspirieren. “Die meisten Songs des neuen Albums stammen eigentlich von den jeweiligen Mixtapes der Produzenten, die sie mir über die Jahre haben zukommen lassen”, bestätigt sie. Ihr sei absolut wichtig gewesen, “diese kleine Familie zusammen zu bringen”, weil sie an "einem wirklichen Projekt arbeiten wollte, einem größeren Projekt. Sie glaube ehrlich gesagt gar nicht mehr daran, einzelne Songs aufzunehmen, sagt Badu. “Und im Gegensatz dazu ist das hier ein echtes Projekt, eine Geschichte für sich, ein Film, wenn man so will. Daran glaube ich, und das will ich um mich versammeln: diese ganz besondere Bewegung, ein unteilbares Atom.”
Am Ende behielt Badu 72 Tracks. Am 29. Februar, kurz nach ihrem 37. Geburtstag erschien “New Amerykah Part One (4th World War)”, das erste von vier Alben, die sie in den nächsten zwölf Monaten zu veröffentlichen gedenkt. Es ist Erykah Badu at her very best. Eingeläutet vom spirituellen Roy Ayers-Soulklassiker “Amerykahn Promise” zitiert “New Amerykah” den Stax-Volt Sound von 1968, den P-Funk von 1977, den Def-Jam-Sound von 1986 bis hin zu M.I.A. (ohne deren exotische Komponenten) und schießt dann souverän über die Gegenwart hinaus. Mühelos erreicht sie ein neues Level im Hip Hop, und die CD gewinnt bei jedem neuen Anhören. Einfach brillante visuelle Komponente: das Artwork, es recyclet die Soul-LP-Kunst der 1970er. Erykah Badu muss in diesem Zusammenhang nichts mehr beweisen. Locker kann sie hier und da auf ihren eigenen Sound zwischen dem Nu Soul ihres Durchbruchs und den rauen, schneidenden Tracks ihrer letzten EP zurückgreifen. Auf “Me” spielt ihr einstiger Highschool-Freund, der “junge Löwe” Roy Hargrove Trompete. Mit “Telephone” hat sie einen Track des legendären J Dilla, der ihren Sound entscheidend prägte, aus der Schublade geholt. “Wir alle wissen, was er für die Hip Hop Welt bedeutet.” Dabei steuerten die meisten ihrer heutigen Kollaborateure nicht einfach nur Beats und Basslines dazu, sondern beteiligten sich aktiv am Songwriting. So auch Shafiq, dritter Mann des kalifornischen Beatkollektivs Sa-Ra. Man könnte sich auf jede Menge Sa-Ra Vibe auf ihren neuen Alben gefasst machen, betonte Badu. Sie habe definitiv wieder etwas zu sagen, meint die einstige Kopftuchträgerin und Hohepriesterin des Patchouli-Souls – die sich zumindest vom Kopftuch verabschiedete. “Zwischen dem letzten Album und diesem ist viel geschehen”, bilanziert Badu. “Ich habe beobachtet, was auf diesem Planeten, in meinem Land, in meiner Stadt {Badu pendelt zwischen New York und Dallas} passiert: technisch, energetisch, physisch, spirituell – es war wie wieder zur Schule zu gehen. Künstler nutzen ihre Musik als Therapie, ich zumindest.” Ihre eigene, ihre persönliche Evolution ist der Sängerin genau so wichtig wie ihr kreativer Output. “Wachstum ist kein Wettrennen, es ist ein Prozess. Ich gehe nicht in die Mikrowelle, um etwas auszubrüten”, meint Badu und besteigt dann lässig den für sie bereit gestellten Thron.