DG120 | News | "The Shellac Project" – Ewige Opernstars, der älteste Chor der Welt und hinreißende Aufnahmen des letzten Kastraten

“The Shellac Project” – Ewige Opernstars, der älteste Chor der Welt und hinreißende Aufnahmen des letzten Kastraten

The Shellac Project
© DG
30.04.2019
Das gefeierte Schellack-Projekt der Deutschen Grammophon geht in eine neue Runde. Am 3. Mai 2019 erscheinen 33 Archivalien der Schellack-Ära neu in digitaler Gestalt. Die Sammlung ist breit gefächert: Sie umfasst Chormusik und Opernarien, geistliches und weltliches Liedgut, Werke für Klavier solo sowie Orchester- und Kammermusik. Den Löwenanteil bildet vokales Repertoire. Mit Kompositionen von Claude Debussy, Alfred Grünfeld, Richard Strauss und Hans Pfitzner bietet die Auswahl aber auch auf instrumentalem Gebiet faszinierende Einblicke in eine Zeit, die stark aus der Spannung zwischen spätromantischer Nostalgie und dem Vorwärtsdrang in die Moderne lebte. Exemplarisch dafür: Alfred Grünfelds “Ungarische Fantasie” für Klavier solo. Von dem österreichischen Kultpianisten selbst vorgetragen, kann die Komposition ihre Prägung durch die Klavierromantik des 19. Jahrhunderts kaum leugnen. Ihre sprunghaften Momente und ihre ironischen Gesten weisen aber schon deutlich auf ein moderneres, unruhigeres und distanzierteres Lebensgefühl voraus.
Von Distanz kann bei Alessandro Moreschi nicht die Rede sein. Die sagenumwobenen Aufnahmen des großen italienischen Kastraten gleichen einem innerlichen Beben und bilden zweifellos den Leuchtturm der neuen Folge des Schellack-Projekts. Darüber hinaus darf man sich in der aktuellen Auswahl auf zahlreiche Opernstars des frühen 20. Jahrhunderts freuen, darunter Größen wie Emmy Destinn, Titta Ruffo, John McCormack, Helge Rosvaenge, Heinrich Schlusnus und Lev Sibiryakov.  
Deutsche Grammophon arbeitet gemeinsam mit Google Arts & Culture an dem “Shellac Project”. Im Rahmen des ambitionierten Vorhabens, das im Juni 2018 startete, konnten bislang 250 Schellack-Aufnahmen ins digitale Zeitalter gerettet werden. Die frappierend hohe Klangqualität der Digitalisate, die ausgehend von den Metallmatrizen der alten Platten mittels modernster Techniken erstellt werden, rückt die Schellack-Ära zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz nah an das heutige Publikum heran.   

Der Engel von Rom: Alessandro Moreschi

Was Fred Gaisberg mit Alessandro Moreschi gelang, darf ohne jede Übertreibung als Sensation bezeichnet werden. Der US-amerikanische Musiker und Toningenieur, einer der ersten Produzenten der um 1900 noch jungen Musikbranche, brachte den letzten Kastraten der Sixtinischen Kapelle vor den Schalltrichter. Gaisberg arbeitete damals als Aufnahmeleiter von Emil Berliners Gramophone Company. Eigentlich war er nach Rom gereist, um die Stimme des Papstes aufzunehmen. Doch Leo XIII. "verweigerte den irdischen Dialog mit der Ewigkeit", wie es der Musikkritiker Jürgen Kesting pointiert ausdrückte. Stattdessen “brachte Gaisberg ein ‘Domine salvum fac’ mit” – inbrünstig vorgetragen von ebenjenem Alessandro Moreschi.
Gaisbergs legendäre Aufnahmesession fand im Jahre 1902 statt. Es sollte nicht die letzte mit dem “Engel von Rom” sein, wie Moreschi auch genannt wurde. 1904 trat der große Sopran erneut vor den Trichter, diesmal unter der Regie des von der Gramophone Company entsandten Aufnahmetechnikers William Sinkler Darby. Aus jener Session stammen die nunmehr digital zugänglichen Schellack-Aufnahmen des Ausnahmesängers, der als einer der letzten Kastraten gilt. Moreschi ist darauf in einer überwältigend einfühlsamen Interpretation des kirchlichen Bittgesangs “Oremus pro pontefice” in der Vertonung von Emilio Calzanera zu erleben, kongenial begleitet vom mutmaßlich ältesten Gesangsensemble der Welt, dem Chor der Sixtinischen Kapelle, der mit weiteren berührenden Titeln in der neuen Auswahl vertreten ist. Als zweiter Track lockt Palestrinas wehmütiges Madrigal “La cruda mia nemica”, in dem Moreschis Stimme leidenschaftlich klagend erklingt.
Dabei entzieht sich der ebenso glühende wie seltsam schwebende Gesang von Alessandro Moreschi zugleich jeder gängigen Einordnung. Das Timbre unterscheidet sich sowohl vom weiblichen Sopran als auch vom Countertenor. Der Gesang der Kastraten war eben ganz eigen. Durch die erstaunlich hohe Klangqualität der digitalen Exponate rückt der von ferne an die Kinderstimme erinnernde und doch kräftige Ausdruck des Sängers jetzt aber ganz nah an die Hörerschaft heran. Das ist umso wertvoller, als der italienische Sopran der einzige Kastrat ist, von dem Tonaufzeichnungen existieren. Deshalb kann nur durch ihn ein musikalischer Eindruck von jener jahrhundertealten Tradition gewonnen werden, die für die betroffenen Sänger oft so schmerzvoll war, deren Schönheit und musikalische Höhe aber durch Moreschis Gesangskunst eindeutig verbürgt ist.        
Opernstars des frühen 20. Jahrhunderts
Weniger geheimnisträchtig, dafür umso schillernder muten viele der jetzt digital verfügbaren Schellack-Aufnahmen von Opernstars des frühen 20. Jahrhunderts an. So singt etwa die tschechische Primadonna Emmy Destinn mit ihrem imposanten voluminösen Sopran ein ebenso farbenreiches wie tief empfundenes “Ave Maria” von Bach/Gounod. Die Aufnahme stammt von 1908. Der italienische Star-Bariton Titta Ruffo, eine der größten Sängerlegenden überhaupt, ist mit hinreißenden Arien und Liedern von Tosti, Ferradini, Leoncavallo und Massenet zu erleben, die er in den Jahren 1912 bis 1914 aufzeichnen ließ. Ferner darf man sich auf den zupackenden Stil des irischen Startenors John McCormack freuen, der im Jahre 1912 lebhafte Arien von Arrigo Boito und Georges Bizet einsang. Last but not least reizt der schon lange als Geheimtipp geltende russische Bass Lev Sibiryakov, der in warmem, hochkultiviertem Ton Glinka singt, festgehalten im Jahre 1910 in Sankt Petersburg.   
Verfügbar auf allen DG Kanälen sowie den Partner-Plattformen Google Play Music, YouTube Music, Spotify, Apple Music und Amazon. Mehr Informationen und weitere Inhalte finden Sie auf der Google Arts & Culture Plattform (g.co/deutschegrammophon) sowie auf der DG120-Website (www.dg120.info).
Auch die begleitende Playlist wird am 3. Mai um weitere musikalische Schätze erweitert.