Stories Don’t End
Obwohl den vier Mitgliedern von Dawes ihre Heimatstadt Los Angeles häufiger als Inspirationsquelle gedient hatte, fassten sie letzten Herbst den Entschluss, in Richtung Osten aufzubrechen, um ihr drittes Album in den Blue Ridge Mountains von North Carolina aufzunehmen. Gemeinsam mit ihrem neuen Produzenten Jacquire King wollten sie ein wenig Abstand gewinnen, Routine, Alltag und alte Gewohnheiten hinter sich lassen und sich einfach nur einen ganzen Monat auf die neuen Songideen konzentrieren. Zwölf der so im Echo Mountain Studio von Asheville entstandenen Tracks bilden nun ihr neuestes Album, das musikalisch und inhaltlich eine klare Linie verfolgt, also als schlüssiges Ganzes funktioniert – und eingerahmt wird von zwei ganz unterschiedlichen Versionen des schwermütigen Songs “Just Beneath The Surface” (genau genommen ein irreführender Titel, denn alles, was dazwischen passiert, hat extrem viel Tiefgang). Insgesamt bewegen sich Dawes mit Stories Don’t End gar nicht mal so sehr auf klangliches Neuland; stattdessen präsentieren sie gewissermaßen die Essenz ihres bisherigen Schaffens in komprimierter Form. Zudem zeigt das Album eindrucksvoll, wie sehr sie zwischenzeitlich an ihrem musikalischen Können und ihren Arrangements gefeilt haben, denn die fertigen Versionen jener Ideen, die nach wie vor größtenteils von Songwriter und Sänger Taylor Goldsmith stammen, klingen noch perfekter durchdacht – und zugleich noch emotionaler als je zuvor.
In Goldsmiths Ansatz als Songwriter verschmelzen vermeintliche Gegensätze immer wieder zu einer Einheit: Abgebrühtes trifft auf Einfühlsames, Hartgesottenes auf Herzschmerz. Er durchleuchtet die Abgründe der menschlichen Psyche fast schon wie ein klassischer Detektiv (ca. aus den Vierzigern) auf der Suche nach Anhaltspunkten und relativen Wahrheiten über die Liebe und das Leben ganz allgemein. “Just My Luck” hat den Nachdruck eines zeitlosen Country-Klassikers, wobei das Arrangement, pures Understatement, absolut zeitgenössisch klingt. Und als ob in seinem Gesang nicht schon genug Leidenschaft und Schwermut mitschwingen würden, geben das Klavier von Tay Strathairn und Goldsmiths Gitarrenspiel diesem Gefühl gegen Ende des Songs sogar noch mehr Nachdruck. “Something In Common” klingt hingegen nach einem Morgen danach; das Stück wird immer lauter und dramatischer, bis zum Schluss wieder eine ähnlich melancholisch-ruhige Stimmung die Oberhand gewinnt. Der Sänger setzt derweil auf wenige Worte – “something in common” eben –, nutzt sie wie Kapitelüberschriften und kreiert dazwischen eine packende Geschichte, die mit jeder Zeile neue unerwartete Wendungen nimmt. Auch im Fall von „Someone Will“ spielen Wortspiele eine wichtige Rolle, wobei Dawes hier noch lässiger klingen, und in der Mitte des Albums teilen sich schließlich Taylor und sein jüngerer Bruder Griffin Goldsmith, sonst Schlagzeuger der Band, das Mikrofon, um so eine Coverversion des Stücks “Hey Lover”, ursprünglich von ihrem Freund Blake Mills mit einem Augenzwinkern komponiert, zum Besten zu geben.
“Ich hatte eine richtige Joan-Didion-Phase hinter mir”, berichtet Taylor über die Zeit kurz bevor er damit begann, die neuen Stücke zu schreiben. Er hatte gerade erst Didions gefeierten Roman Demokratie ausgelesen, als er auch den Titel ihres neuen Albums, Stories Don’t End, bei ihr entdeckte. Obwohl Didion inzwischen in New York City lebt, steht ihr Name nach wie vor eher für Geschichten aus dem Süden Kaliforniens, für die kulturellen Entwicklungen der Sechziger und Siebziger, die sie in vielen Texten mit geschärftem Blick skizziert hat. Als die ausgiebige Dawes-Tour zum Vorgängeralbum Nothing Is Wrong (2011) schließlich beendet war, versuchte sich Goldsmith an ähnlich präzisen Bestandsaufnahmen wie die Autorin: “From A Window Seat” war das erste Stück, das er schrieb, und “es ist auf jeden Fall ein ganz schön ungewöhnlicher Song geworden”, meint der Songwriter rückblickend. “Viele der neuen Songs sind thematisch etwas breiter angelegt, sie handeln also zum Beispiel von einem Lebensabschnitt oder dem Versuch, ein bestimmtes Gefühl besser zu verstehen. Dieses Stück allerdings handelt von einem konkreten Moment, einer konkreten Erfahrung: Davon, wie es ist, im Flugzeug zu sitzen – was einem ja eigentlich nicht gerade viel kreativen Freiraum lässt.” Doch indem Goldsmith etliche Details aneinanderreiht, gelingt es ihm auch hier, größere Zusammenhänge herzustellen: Die Vergangenheit des Erzählers verschmilzt mit seiner (und unser aller) ungewissen Zukunft, und man erkennt, dass unter der mit Pools übersäten Szenerie Kilometer unter seinem Fensterplatz Dinge lauern, denen er sich noch zu stellen haben wird. Der gradlinig-druckvolle Gitarrensound, über dem Goldsmith seine Gedanken während des Flugs präsentiert, macht das Ganze sogar noch eindringlicher. “Bear Witness”, erst ganz zum Schluss der Sessions in Asheville, also quasi in letzter Minute entstanden, entführt den Zuhörer daraufhin an ein Krankenbett in einer Klinik, wo sich ein Vater mit seinem Kind unterhält…
Der Vorgänger Nothing Is Wrong war von Fans und Kritikern gleichermaßen gefeiert worden, die Zeitung The Independent aus London sprach sogar von “dem wohl perfektesten Americana-Album, das in diesem Jahr erschienen ist.” Bis zum letzten Album hatte die Band stets auf ihren alten Freund Jonathan Wilson als Produzenten gesetzt, der Nothing Is Wrong in einem größeren Studio in Echo Park produzierte, nachdem er schon für das Debütalbum North Hills (2009) in seinem eigenen Studio in Laurel Canyon hinter den Reglern gestanden hatte. Doch dann ging Wilsons Solokarriere (mit der Veröffentlichung von Gentle Spirit) durch die Decke, woraufhin sich Dawes nach einem neuen Verbündeten umschauen mussten. Jacquire King war nicht nur ein großer Name, er hatte auch schon mit ganz unterschiedlichen Leuten gearbeitet: Unter anderem war er bereits mit Kings of Leon, Modest Mouse, Norah Jones oder auch der Bluegrass-Combo The Punch Brothers im Studio gewesen. “Ist unglaublich easy, mit ihm zu arbeiten”, meint Keyboarder Strathairn. “Er drängelt sich nie vor oder will die Rolle des Musikers übernehmen; stattdessen tut er einfach nur alles dafür, dass die Band so perfekt klingt, wie es nur irgend geht. Die Resultate unserer Zusammenarbeit sprechen da jawohl für sich.”
Mit King zu arbeiten und ihren Ansatz der letzten beiden Alben, die sie noch live auf analogem Tape mitgeschnitten hatten, über den Haufen zu werfen, hat der Band laut Taylors Aussage dabei geholfen “noch einen Schritt weiter zu gehen, unsere klanglichen Grenzen noch weiter auszudehnen, ohne dabei unseren typischen Sound aus den Augen zu verlieren. Das war absolut wichtig für uns: Wir wollten niemanden enttäuschen, der gewisse Erwartungen an unseren Sound hat – und schon gar nicht uns selbst! Stattdessen wollten wir einfach unser Ding weiterverfolgen und zugleich das Spektrum einen Tick vergrößern.”
Einen spontanen Live-Cut gibt es allerdings doch auf dem Longplayer: Wenn ganz zum Schluss des Albums die Reprise von “Just Beneath The Surface” kommt, ist das genau genommen nur der erste Versuch der Band, diesen Song zu verstehen und zu arrangieren, allerdings klang das Resultat einfach zu gut, um es in der Schublade verschwinden zu lassen. “Wir wussten genau, welche Stimmung wir damit kreieren wollten”, erinnert sich Bassist Wylie Gelber. “Also probierten wir es einfach zusammen, während Jacquire noch am Aufbauen war. Wir hatten ja keine Ahnung, dass er trotzdem schon auf Aufnahme gedrückt hatte. Also spielten wir drauflos, hörten irgendwann auf, und nach einer Minute sagte er nur: ‘Ich würde mal sagen, den haben wir schon mal im Kasten.’ Natürlich haben wir noch andere Versionen aufgenommen, aber die waren alle längst nicht so gut wie dieser erste Mitschnitt. Man hört auch ganz deutlich bzw. man fühlt förmlich, dass es unser allererster Versuch ist; der Song ist ganz einfach gestrickt, und gerade bei solchen Stücken muss man mit sehr viel Feingefühl an die Sache herangehen.”
“Jacquire hat uns dabei geholfen, die Essenz unserer bisherigen Aufnahmen zu bewahren”, kommentiert Taylor, “nur zugleich hört man eben auch ganz deutlich, dass dieses Album im Jahr 2013 erscheint, dass es in dieser Zeit entstanden ist. Viele Bands greifen auf vergangene Zeiten oder auf Stile aus einer anderen Ära zurück, was natürlich immer auch seine Grenzen mit sich bringt. Schon deshalb war das nie unser Ansatz.”
“Das neue Album ist einfach wahnsinnig ehrlich”, sagt Strathairn abschließend. “Das sind wir. So klingen wir.”