Die Musik des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov hat in den vergangenen Monaten weltweit Aufmerksamkeit gefunden. Krieg war Teil seiner Kindheit im von den Nazis besetzten Kiew. Krieg bestimmt 80 Jahre später seinen Lebensabend. Vor einigen Monaten trafen Daniel Hope und Alexey Botvinov, der selbst Odessa verlassen hat, den Komponisten in Berlin, seinem Zufluchtsort. Der Geiger und der Pianist veröffentlichen nun – nach viel beachteten Solidaritätskonzerten für die Ukraine und einer Spenden-EP – ein reines Silvestrov-Album. Es erscheint am 30. September bei Deutsche Grammophon. Zu hören sind die Weltersteinspielung von Pastorales 2020 und eine Auswahl von Stücken aus den 2000er-Jahren. Hier sprechen die Künstler über den Komponisten und sein Œuvre und auch darüber, warum seine Musik heute wichtiger ist denn je.
Sie hatten dieses Album mit Musik von Silvestrov bereits im Sinn, lange bevor Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Wie kamen Sie auf das Projekt und wie wurde es schließlich realisiert?
Daniel Hope: Ich fahre jetzt seit acht Jahren regelmäßig nach Odessa und gebe dort Konzerte, dank Alexey Botvinov und seinem Musikfestival Odessa Classics. Ich liebe diesen Ort und habe mich ihm von Anfang an verbunden gefühlt. Meine Lehrer, meine Vorbilder an der Violine , so viele große Musiker sind auf die eine oder andere Art mit Odessa verbunden. Alexey und ich fanden es dann einen schönen Gedanken, ein Werk bei einem ukrainischen Komponisten in Auftrag zu geben, um es 2020 beim Festival aufzuführen. Alexey musste gar nicht groß nachdenken und sagte sofort: »Wie wäre es mit Silvestrov?« Ich hingegen wäre nie im Leben auf Silvestrov gekommen, zu berühmt, zu beschäftigt, dachte ich. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er zusagt. Aber Alexey hat ihn gefragt und er hat umgehend geantwortet: »Ja, da möchte ich was machen.« Das war eine echte Überraschung.
In meiner Eigenschaft als Präsident des Beethoven-Hauses Bonn sprach ich mit meinen Kollegen dort über die Idee, Silvestrov offiziell mit der Komposition eines Werks zum 250. Geburtstag von Beethoven zu beauftragen, 2020 war das Jubiläumsjahr. Uns schwebte eine Verbindung zu Beethovens »Pastorale« vor, da sie im Mittelpunkt mehrerer wichtiger Projekte des Beethoven-Jahrs stand. Wir haben uns erlaubt, das Silvestrov vorzuschlagen. Sein neues Werk, Pastorales 2020, greift Elemente von Beethovens Sechster Symphonie auf, verarbeitet sie aber auf ganz eigene Weise.
Durch die Pandemie ergab es sich nie, dass wir das ganze Werk vor Publikum aufführen konnten. Aber nach unserem Album mit Musik von Alfred Schnittke, dachten Alexey und ich bereits über das nächste Projekt nach. Wir wollten noch einmal Musik einspielen von einem starken, kompromisslosen Charakter, mit dem uns etwas verbindet. Für mich ist Schnittke von persönlicher Bedeutung, für Alexey ist es Silvestrov. Damit war klar, es wird Silvestrov. Neben der Weltersteinspielung von Pastorales 2020 sind auf dem Album so außerordentlich schöne Stücke wie die »Chopin-Augenblicke« aus Zwei Stücke (2003), die drei exquisiten Miniaturen der Komposition 25.X.1893…zum Andenken an P.I. Tschaikowskij und die Hommage à J.S.B.
Wir hatten vor, Silvestrov zu treffen, uns mit ihm an seine Musik zu setzen und das Album in der Ukraine aufzunehmen. Die gemeinsame Arbeit sollte in diesem Jahr im Februar oder März beginnen, aber dann kam der Krieg. Mit Hilfe von Freunden und Journalisten der Deutschen Welle gelang es Silvestrov, zu Fuß aus der Ukraine zu fliehen, die Grenze nach Polen zu überqueren und nach Berlin zu gelangen. Alexey und ich hatten für den 11. März in Berlin ein Solidaritätskonzert in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche organisiert, einem der symbolträchtigsten Orte Deutschlands. Wir hörten, dass Silvestrov gerade in der Stadt angekommen war und kontaktierten ihn. Und er kam zu dem Konzert.
Wir spielten für ihn an diesem Abend. Seine Musik in diesem Augenblick für diesen Zweck auf die Bühne zu bringen, während er in der ersten Reihe saß, war eine wirklich bewegende Erfahrung. Danach waren wir noch fester entschlossen, dieses Album zu machen.
Das Konzert wurde im Fernsehen übertragen, die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt und Joachim Gauck, Bundespräsident a.D., war anwesend. Silvestrov stand spontan auf und hielt eine wutentbrannte, leidenschaftliche Rede, die simultan aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt wurde. Man hörte, wie die Menschen um Fassung rangen bei manchem, was er sagte, ihre Anspannung war greifbar. Und dann legte Silvestrov plötzlich das Mikrofon zur Seite, ging zum Klavier, setzte sich daran und sagte, er werde ein Stück spielen, das ihm auf seiner Flucht aus der Ukraine in den Kopf gekommen sei. Was für eine Schönheit plötzlich gegenwärtig war, fast wie ein Strauß von Klängen – und das direkt nach seinen zornigen Worten. Für mich sagte das viel über ihn.
Die Musik von Silvestrov hat mich schon immer angezogen. Aber vor dem Hintergrund dieses Konzerts und den Bildern im Fernsehen, nun ja … Alexey und ich haben die Werke auf Schloss Elmau eingespielt, in absoluter Idylle, und bekamen gleichzeitig immer grauenhaftere Nachrichten, sobald wir das Telefon auf Empfang stellten. Das verändert, wie man über diese Musik denkt, sie spielt und atmet. Nachdem wir die Musik nun aufgenommen haben – gerade jetzt – habe ich einen anderen Bezug zu ihr, sie hat etwas Vertrautes und zugleich Schmerzhaftes für mich.
Vor diesem Album haben wir für Deutsche Grammophon eine digitale EP für Aktion Deutschland Hilft aufgenommen, um Spenden für die Ukraine zu sammeln. Auf ihr sind Stücke aus Silvestrovs Zyklus Melodien der Augenblicke, Werke des 2020 verstorbenen ukrainischen Komponisten Myroslav Skoryk sowie von Jan Freidlin, der einst in Odessa gelebt hat.
Daniel, Sie sind dem Menschen Silvestrov zum ersten Mal begegnet, seine Musik aber kannten Sie bereits. Aus Ihren Worten wird deutlich, dass sie Sie zutiefst berührt. Warum?
Daniel Hope: Die Musik von Silvestrov lebt und atmet Melodie. Sie hinterlässt etwas beim Publikum, wenn wir sie spielen. Ihre Einfachheit nährt, glaube ich, im Kern und unmittelbar die eigenen Gefühle. Er dringt zu dem vor, was Menschsein ausmacht. Und das – ich sage das mit großem Respekt – mit geradezu kindlicher Einfachheit. Dennoch sind seine Partituren voller Ausdruck und dynamischer Markierungen. Was als schlichte, elementare Melodie erscheint, ist im ständigen Wandel begriffen, ein Wechsel der Gezeiten. Es ist unruhige, fesselnde Musik in einer weichen Schale. Ich kenne keinen anderen Komponisten wie ihn. Seine Musik ist sehr emotional und drückt sich auf subtilste Weise aus.
Was Silvestrov seine »Metamusik« oder »metaphorische Musik« nennt, steht, wie der Begriff schon sagt, symbolisch für etwas, das viel größer ist als die Summe der Teile. Er hat von seinem Streben nach einer universellen Musik gesprochen, verwurzelt in Melodie und den expressiven Gesten des Gesangs, von seiner Suche nach etwas, das offen ist für gemeinsame menschliche Erfahrungen. Im Grunde ist es das Gegenteil von der Spaltung und dem Hass, die sich seit dem Ukraine-Krieg Bahn brechen, etwa in der Gleichsetzung russischer Musik der Vergangenheit mit russischer Geopolitik der Gegenwart. Was halten Sie vom Nein zu russischen Künstlerinnen und Künstlern auf der Weltbühne?
Alexey Botvinov: Der Ausschluss russischer Musik ist eine politische Frage, es darf darüber diskutiert werden, aber ich bin natürlich nicht damit einverstanden. Ich weiß, dass Silvestrov und ich da einer Meinung sind: Für ihn ist Tschaikowskis Musik universell. Wir können versuchen uns vorzustellen, wie sich die Menschen in Charkiw oder Kiew fühlen. Und ich kann verstehen, warum sie kein russisches Repertoire in einer Stadt aufführen, die von russischen Bomben getroffen wird. Aber Musik geht weit über jede nationale Kultur hinaus. Man erkennt, wie Silvestrov in seinen Kompositionen mit den Stilen von Schubert, Mozart, Tschaikowski oder Bach spielt, das liegt daran, dass er sich auf eine Art mit dem Geist dieser Komponisten verbunden fühlt. Ich bin wirklich froh, dass wir dieses Projekt noch vor dem Krieg begonnen haben, nicht weil Silvestrov gerade en vogue ist, wie jetzt, sondern weil wir beide seine Musik bewundern. Er ist ein einzigartiger Komponist mit einer eigenen Sprache, aber diese Sprache ist universell.
Silvestrov hat gesagt: »Ich glaube, dass Musik – auch wenn sie nicht ›gesungen‹ werden kann – dennoch Gesang ist.« Für ihn ist Musik »keine Philosophie, kein Weltbild, sondern Gesang der Welt über sich selbst und ein musikalisches Zeugnis des Seins«. Seine Erfahrung als Flüchtling – der im September 85 Jahre alt wird – schärft den Blick auf diese Worte.
Alexey Botvinov: Es ist nicht leicht für ihn. Er ist ein introvertierter Mensch. Aber noch nie habe ich ihn so offen erlebt wie bei unserer Begegnung in Berlin. Nach der Flucht war er voller Gefühle, voller Zorn. Er zeigte sich uns und dem Publikum im Berliner Konzert ganz unverblümt. Nach seinen Worten über all die schrecklichen Dinge, die er gesehen hatte, und diesen Exodus von Menschen wurde er zu einem anderen am Klavier durch das, was er spielte. Ich hatte mit etwas Tragischem gerechnet. Aber er spielte dieses schöne, traumgleiche, optimistische Stück. Das war wirklich bemerkenswert.
Eines der Stücke auf dem Album, Nostalghia (2001) für Klavier solo, ist auffallend individuell selbst nach Maßstäben des späten Silvestrov. Es erweckt die Sehnsucht nach einem Ort, wo die Seele Frieden findet, zu Hause oder im Himmel auf Erden.
Alexey Botvinov: Diese Musik finde ich einzigartig! Eine Mischung aus Free Jazz und Meditation. Vielleicht gibt es einen Bezug zu Andrei Tarkowski – allerdings nicht zu seinem Film Nostalghia. Sagen wir, Silvestrov, Arvo Pärt, Tarkowski und der Filmemacher Sergei Paradschanow sind auf intellektueller Ebene verbunden. Für mich hat diese Musik in ihrer träumerischen, halluzinatorischen Qualität viel mit den besten Filmen von Tarkowski gemein.
Ein Leben lang hat Silvestrov dem Druck widerstanden, sich anzupassen, zu Sowjetzeiten ebenso wie in jüngerer Zeit, er wollte sich nicht vorschreiben lassen, wie die Musik eines zeitgenössischen Komponisten zu klingen hat. Es scheint, dass es in mancherlei Hinsicht und an vielen Orten gefährlicher geworden ist, seine Meinung zu äußern oder anders zu denken – also das zu tun, was Silvestrov entspricht. Haben Sie sich vorstellen können, was wir heute in der Ukraine, in Russland und auch andernorts erleben?
Daniel Hope: Ich lebe in Berlin, wo meine jüdischen Großeltern in den 1930er-Jahren gewaltsam vertrieben wurden. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal Zeuge werde von etwas, das Parallelen aufweist zu jenen dunklen Zeiten. Wir haben – bei allem, was geschieht – diese unfassbare Situation, dass Holocaust-Überlebende, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland in die Ukraine geflohen sind, jetzt in ihren Neunzigern als Flüchtlinge nach Deutschland zurückkehren. Und ich hätte nie gedacht, dass ich meinen kleinen Kindern einmal erklären muss, dass direkt vor unserer Haustür ein Krieg wütet.
Alexey Botvinov: Die Tatsache, dass ich jetzt ein Flüchtling aus Odessa bin, ist unsagbar traurig. Der Schmerz ist gewaltig. Ich werde tun, was ich kann, um Musik zu machen in der Hoffnung, eines Tages nach Hause zurückzukehren. Mir bedeutet diese Stadt aus vielerlei Gründen sehr viel – ihre legendäre Musiktradition, ihr legendärer Humor. Sie ist die Hauptstadt des Humors für jeden, der Russisch spricht. Ich weiß nicht, wann ich zurückkann; niemand weiß das. Man fühlt sich fremd. Das erste Konzert nach Kriegsbeginn war eine Herausforderung. Ich dachte, warum mache ich das, das ist sinnlos. Aber die Musik hilft. Und mir wurde klar, dass sie so sinnvoll ist wie nie zuvor.
Seit Kriegsbeginn habe ich viele Konzerte gegeben, in der Schweiz, in Deutschland, Estland, Italien. Bei jedem Auftritt kommen einige Flüchtlinge aus der Ukraine zu mir. Das sind sehr emotionale Momente, unter Tränen. Jeder sagt, wie wichtig es ist, durch die Musik dieses Band zu spüren. Und ich empfinde – im Moment noch mehr als sonst in scheinbar »normalen« Zeiten –, welche Kraft für uns alle in Musik steckt. Ich hoffe, dass die Menschen das fühlen, wenn sie unsere Silvestrov-Aufnahme hören.