CORINNE BAILEY RAE
The Sea
2006 veröffentlichte Corinne Bailey Rae ihr gleichnamiges Debütalbum, das sie mit sehr geringem Budget aufgenommen hatte, als sie noch keinen Plattenvertrag hatte. Ein Auftritt in der Show “Later With Jools” auf BBC2 und ein paar sehr intime Konzerte auf den britischen Inseln machten sie schnell zum Geheimtipp. Und trotzdem war der plötzliche und immense Erfolg unvorhergesehen. Ihr Album mit den Hitsingles “Put Your Records On” und “Like A Star” stieg direkt auf Platz eins der englischen Charts ein und wurde weltweit ein Riesenerfolg. Selbst in den USA gelang es Bailey Rae, als erste britische Singer/Songwriterin seit Jahrzehnten direkt in den Top 20 der Billboard-Charts zu landen. Innerhalb weniger Monate war Corinne Bailey Rae ein globales Phänomen.
Jetzt also, vier Jahre und vier Millionen verkaufte Alben später, folgte das lang ersehnte zweite Album. Die 30-jährige Sängerin aus dem nordenglischen Leeds hat in der Zwischenzeit einige Angebote abgelehnt, mit dieser oder jener Berühmtheit und diesem oder jenem einflussreichen Produzenten aufzunehmen. Stattdessen hat sie als Co-Produzentin mit Freunden und ihr vertrauten Musikern gearbeitet und es so geschafft, jene Intimität und Kontrolle zu wahren, die sie braucht, und all die Erwartungen, die in der Folge der mehrfachen Grammy- und Brit-Awards-Nominierungen an sie gestellt wurden, zu ignorieren.
In der Zwischenzeit hat die Künstlerin einen harten Schicksalsschlag erleben müssen. Das Ergebnis ist “The Sea”, ein Reigen von Stücken über Trauer und Hoffnung, Verzweiflung und Inspiration, Verlust und Liebe. “Ich wollte ganz ehrlich sein”, erklärt Corinne. “Ich weiß, dass ich nur schlecht meine Gefühle verbergen kann. Wenn ich Musik mache, ist das für mich der einzige Moment, wo ich nicht denken muss und nichts planen muss. Und so ist dieses Album entstanden. Nichts daran ist künstlich arrangiert – es ist ganz offen und ehrlich.”
Das Album ragt weit über Bailey Raes bereits beachtliche Leistungen hinaus und beweist, dass Quincy Jones, Stevie Wonder und die Arctic Monkeys – unter anderen – zu Recht von ihrer Stimme und ihren Talenten als Komponistin schwärmen. Bailey Rae, eine bekennende Verehrerin von Curtis Mayfield und Donny Hathaway, ist zu bescheiden, um in Worte zu fassen, was den Insidern schon längst klar ist: “The Sea” wird sie in den Olymp katapultieren, der nur den ganz großen Künstlern vorbehalten ist.
“Die Songs stammen alle von mir. Es war mir wichtig, dass ich sie mit Musikern einspielen konnte, die ich kenne und denen ich vertraue.” Der Großteil der Aufnahmen entstand in den Limefield Studios, einem märchenhaften Haus in einem Vorort von Manchester, das unter anderen Steve Brown gehört, der auch als Co-Produzent der dort eingespielten Songs fungierte. Der ehemalige Ballsaal ist heute das Studio. In solch eleganter Atmosphäre, inmitten von gigantischen Spiegeln und Kristallleuchtern, mit exquisiten aber leicht patinierten Antiquitäten und einem Konzertflügel, spielten Corinne und ihre Band die Songs ein, die sie komponiert hatte. “Es war toll, dort Musik zu machen. Es herrscht dort eine Atmosphäre vergangener glamouröser Zeiten und ich habe dort auch schon ein paar fabelhafte Partys erlebt. Es schien mir der perfekte Ort, um ein Album aufzunehmen.”
Weitere Aufnahmen machte Bailey Rae in ihrer Heimatstadt Leeds mit ihrem anderen Co-Produzenten Steve Chrisanthou in dessen 600 Feet Studio – es befindet sich, wie der Name schon andeutet, 600 Fuß (knapp 200 m) hoch gelegen inmitten der Yorkshire Landschaft. Einmal fuhren sie nach Manchester, um im dortigen Royal Northern College of Music Streicher- und Bläserparts aufzunehmen. Als Bailey Rae letztes Jahr nach L.A. reiste, um an den Aufnahmen für “Lay It Down”, das neue Album der Soul-Legende Al Green, teilzunehmen, lernte sie den Drummer Ahmir “Questlove” Thompson und den Keyboarder James Poyser von den Roots kennen und kreierte mit ihnen den leicht trashigen Funksong “The Blackest Lily”.
Der Songtitel ist von The Black Lily abgeleitet, einer sonntäglich bei Ahmir stattfindenden Veranstaltung: “Ahmir bestellte einen Koch zu sich nach Hause, lud Jill Scott, Erykah Badu und die anderen von den Roots ein. Die ganze Musikerszene aus Philadelphia fand sich dort ein, sie jammten, hingen herum, aßen. Ich dachte mir: Wie gerne wäre ich Teil einer solchen Gemeinschaft. Bin ich das oder bin ich ein Außenseiter?' Da kam mir das Bild der schwärzesten aller Lilien in den Sinn.”
Corinne gibt zu, dass sich seit der Komposition des Stückes einiges geändert hat: “Nun fühle ich mich wirklich als ein Teil dieser dynamischen Künstlergemeinschaft” – und genau diese Musiker sind es, die das Rückgrat von “The Sea” bilden, angetrieben von ähnlich ausgelassenen Jams für “Paris Nights”/"New York Mornings" und “Paper Dolls”. Für letztgenanntes kam die Songwriterin, die sich häufig von ihrer Intuition leiten lässt, auf die Idee einer acht Takte umfassenden Bridge, als sie gerade zum Briefkasten ging. Sie spiegelt Bailey Raes Einsichten darüber, wie die Erwartungen anderer Menschen einen “in eine gewisse Form zwingen, aber auch, wie man da wieder heraus kommt.” Es basiert auch auf ihren Erinnerungen an Schulzeiten, als sie mit verruchten' Mädchen befreundet war, obwohl sie selbst nach eigenem Bekunden “richtig spießig und streberhaft” war.
Nahezu vor der eigenen Haustür entstand auch der Titelsong, zugleich der erste Song, den sie für das Album einspielte. “Wir nahmen das im Winter in einer Scheune in Scarborough auf, nicht weit vom Meer. Es war eiskalt, der Wind heulte und die Luft war an jenem Abend ganz anders als sonst. Über uns war ein überwältigender Sternenhimmel, umso besser zu sehen, als es dort meilenweit keine Straßenlaternen gibt. Das war für mich eine ganz besondere Aufnahme.”
“Goodbye Paradise” singt sie in dem wunderschön elegischen letzten Stück des Albums mit rauchig zarter Stimme, begleitet von Streichern, Akkordzither, Klavier und einem himmlischen, sich ins Crescendo steigernden Chor. “The Sea” handelt von einem tragischen familiären Ereignis, einem Bootsunfall, bei dem ihr Großvater mütterlicherseits starb. “Es war so eine Geschichte in unserer Familie, die ich schon als Kind kannte aber nie hinterfragt hatte. Mir war nie bewusst gewesen, dass meine Tante an jenem Tag am Strand zugegen war, als es passierte. Sie hat das ganze Drama gesehen, konnte aber nichts machen. Es brachte mich dazu, darüber nachzudenken, wie solche Trauer und Hilflosigkeit einen Menschen für immer prägen können – wie man bei etwas zusieht und sich dabei sein ganzes Leben unwiederbringlich verändert. Der Song handelt also davon, wie die Trauer meine Tante verändert hat. Und natürlich denke ich, seit ich den Verlust von Jason verschmerzen muss, sehr viel über diese Art der Trauer nach.”
Jason Rae, ein talentierter Saxophonist und Corinne Bailey Raes Ehemann, starb im März 2008. “I’d Do It All Again”, die erste Single, ein mitreißend trotziger und leicht benebelter Song, ist eines von zahlreichen Stücken, die vor diesem Schicksalsschlag entstanden waren.
“Es ist ein Liebeslied, aber ein etwas schwieriges – es geht um jene Situation, wenn die Dinge sich zuspitzen, so sehr, dass man tatsächlich mit verletztem Stolz kämpfen muss. Ich schrieb den Song nach einem Riesenstreit. Es kam einfach aus mir heraus, während ich Gitarre spielte. Es ist für mich ganz besonders, weil seine Entstehung so ungewöhnlich ist. Es war irgendwie gar kein bewusster Prozess. Es ist einfach ein Dokument meiner Hingabe. Trotz allem, was passiert, dass man vielleicht verletzt wird oder gar untergeht, ist diese Liebe unaufhaltbar. Und ich finde, der Song ist richtig gut geworden, alles baut sich zu diesem einen Refrain auf. Darum mag ich das Stück – ein Schuss, ein Treffer”, lächelt sie.
Ebenso ungebeten und uneingeschränkt ist “Are You Here”, ein Song, der nach einer längeren Pause und Trauerzeit entstand. Geradlinig und offen beginnt das Stück, in dem Bailey Rae zur zurückhaltenden Gitarrenbegleitung ihren Liebsten beschreibt: “He’s a real live-wire, he’s the best of his kind…wait till you see his eyes”. Ein Song, der durch Mark und Bein geht.
“Auch diese Songzeile kam einfach so aus mir heraus”, beschreibt sie ganz ruhig den Titel. Natürlich, gibt sie zu, sei das alles auch Teil des Verarbeitungsprozesses. “Ich habe das Gefühl, ich habe Songs geschrieben und gespielt und benutzt, um mich durch die verschiedenen Gemütszustände zu bringen, die ich so durchlebt habe. Als ich anfing, das hier zu komponieren, dachte ich, dieses Stück soll eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sein, es ist so roh … Aber dann musste ich es doch tun.”
Eines ihrer Lieblingsstücke auf dem Album ist das leicht jazzige Klagelied “I Would Like To Call It Beauty”. Sie spielt es gerne live, genießt den nahezu telepatischen Austausch zwischen ihr und dem Drummer. “Ich würde sagen, dieses Stück handelt von meinen Erfahrungen der letzten Zeit. Es handelt von Trauer, was sie mit einem macht, und wie sie einem die Augen öffnet.”
Der Songtitel kam bei einem Gespräch auf, das sie spät nachts mit Jasons jüngerem Bruder hatte – die beiden sprachen über ihre unterschiedlichen Lebensansichten. Corinne sprach über Gott und Jasons Bruder antwortete, er glaube an eine Kraft, die alles zusammenhalte und verbinde. Dann sagte er: “I would like to call it … beauty” und Corinne war überwältigt. “Wie er das einfach so sagte! Da merkte ich, dass wir über das Gleiche sprechen!” Ihr Gefühl war so gewaltig, dass sie sich den Satz sofort für einen Songtitel merkte und ihren Schwager als Co-Autor in die Credits mit aufnahm.
“Bei meinem Verlust habe ich auch viel Schönheit erfahren”, ist ihr erstaunlicher Kommentar. “Einfach in der Art, wie es mir gelang, zu überleben. In der Art, wie ich mich geschützt und unterstützt fühle. Ich denke, der Song handelt davon, wie viel Schönheit in Trauer steckt eben weil Menschen, übernatürliche Mächte und die Natur einen halten.”
Alles in allem handelt “The Sea” von den Banden, die durch Trauer entstehen – sie erstrecken sich von ihrer Tante zu ihr selbst und weiter zu den diversen Schicksalen ihrer Mitmenschen. “Unsere Beziehung wurde immer intensiver. Und all der Unrat, alles Nichtige, wurde dabei weggespült. Nur das wirklich Reine ist geblieben. Das ist eines der wirklich schönen Aspekte daran.”
“The Sea” beschränkt sich jedoch nicht auf diese eine Gefühlslage, sondern deckt eine ganze Bandbreite an Emotionen ab. Natürlich enthält das Album Szenen, die einem das Herz brechen. Aber so ist es eben bei einer großen Liebe, wenn eine rundherum ehrliche und unerschrockene Künstlerin sich mit ihr auseinandersetzt. “Was auch immer ich mache, ich will einfach ehrlich und glaubwürdig sein”, schließt Bailey Rae ab. Es steht außer Frage, dass dieses Album eines der ehrlichsten Werke der letzten Jahre ist – und eines der schönsten noch dazu.
Dezember 2009