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Charlie Haden Family & Friends – Rambling Boy

24.09.2008
Als jemand, der Konventionen und Erwartungen stets trotzte, erlangte der Bassist Charlie Haden seinen legendären Status in den späten 50er Jahren erst durch seine bahnbrechende Mitwirkung im Ornette Coleman Quartet, dann durch die Aufnahme einiger der einflußreichsten Alben des Jazz mit Künstlern wie Keith Jarrett und die Formierung seines politisch motivierten Liberation Music Orchestra. Als Musiker ohne stilistische Scheuklappen arbeitete Haden im Laufe der Jahrzehnte mit so unterschiedlichen Musikern wie John Coltrane, Ringo Starr, Herbie Hancock, Rickie Lee Jones sowie Beck zusammen und nahm unter eigenem Namen eine Reihe ebenso einzigartiger wie zeitloser Alben auf.
In seiner gesamten Karriere machte der dreifache Grammy-Gewinner auch nie einen Hehl daraus, daß er eine tiefe und unvergängliche Leidenschaft für amerikanische Roots-Musik hegte. Auf dem Duo-Album “Beyond The Missouri Sky”, das Haden 1996 mit dem Gitarristen Pat Metheny einspielte, reflektierten die beiden Protagonisten musikalisch ihre Jugendzeit, die sie in kleinen ländlichen Städten in Missouri verbracht hatten. Zwei Jahre zuvor hatte sich der Bassist auf dem klassischen Album “Steal Away” im Duo mit dem legendären Pianisten Hank Jones bereits mit der Tradition der amerikanischen Spiritual- und Gospel-Musik auseinandergesetzt. Und 2002 nahm er (zusammen mit Michael Brecker, Brad Mehldau und Brian Blade) auf “American Dreams” den amerikanischen Traum kritisch unter die Lupe.

Wer die Laufbahn des Bassisten verfolgt hat und mit seiner Biographie etwas näher vertraut ist, weiß natürlich, woher Charlie Hadens Ader für amerikanische Roots-Musik stammt. Schon im zarten Alter von 22 Monaten, so die Legende, debütierte der kleine Charlie im Radioprogramm der Haden Family. Obwohl sie nicht ganz so berühmt war wie die befreundete Carter Family, genoß die Haden Family in den 30er und 40er Jahren in der Country-, Bluegrass- und Western-Musikszene einen exzellenten Ruf. Bis zu seinem 15. Lebensjahr trat Charlie als Sänger mit der Familienband auf, dann bereitete eine Polioerkrankung, die seine Stimmbänder in Mitleidenschaft zog, seiner Gesangskarriere ein Ende und führte dazu, daß sich der Teenager fortan ganz dem Baßspiel widmete. Mit dem Album “Charlie Haden Family & Friends: Rambling Boy” kehrt Charlie Haden nun mit seiner eigenen Familie und sehr nahestehenden Freunden zu seinen musikalischen Ursprüngen zurück.

“Rambling Boy” bietet neben einer Reihe von Songs, die durch die Stanley Brothers, die Carter Family und Hank Williams bekannt wurden, und anderen traditionellen Stücken auch ein paar bemerkenswerte neue Originale. Die neue Haden Family, die von Charlie und seiner Frau Ruth Cameron geleitet wird, besteht aus den vier Kindern des Paars (den Drillingen Petra, Rachel und Tanya sowie ihrem Bruder Josh) und Schwiegersohn Jack Black (der bekannte Komiker und Musiker ist seit 2006 mit der Cellistin und Sängerin Tanya Haden verheiratet), die allesamt eigene musikalische Karrieren verfolgen. Zu ihnen gesellten sich für die Session von “Rambling Boy” einige sehr illustre Größen der Americana-, Country-, Bluegrass-, Jazz- und Popmusik: u.a. Rosanne Cash, Elvis Costello, Pat Metheny, Vince Gill, Bruce Hornsby, Bela Fleck, Ricky Skaggs & The Whites, Dan Tyminski, Jerry Douglas, Sam Bush, Stuart Duncan und Bryan Sutton.

Wenn man dieses zutiefst in der ländlichen Musiktradition der USA verwurzelte Album so hört, mag man kaum glauben, daß man es hier tatsächlich mit demselben Charlie Haden zu tun hat, der einst mit Ornette Coleman durch Alben wie “Change Of The Century” und “Free Jazz” die gesamte Jazzwelt in helle Aufregung versetzte. Und auch von dem nostalgischen Jazz, den Haden mit seinem Quartet West in den 80er und 90er Jahren auf Meisterwerken wie “Haunted Heart” und “Now Is The Hour” spielte, scheint die Musik von “Rambling Boy” Lichtjahre entfernt.  


Historischer Rückblick: Die Haden Family

Charlie Haden wurde buchstäblich mit Country-Musik großgezogen. Seine Eltern Carl und Virginia Haden (in der Szene als “Uncle Carl” und “Mary Jane” bekannt) leiteten in den 30er und 40er Jahren eine nur aus engsten Familienmitgliedern bestehende Band. Die Haden Family – in der auch Charlies ältere Brüder Carl Jr. und Jim sowie seine ältere Schwester Mary mitwirkten – konnte man seinerzeit in jedem größeren Radiosender im Süden und Mittleren Westen der USA hören. Beim Sender KMA in Charlies Geburtsort Shenandoah/Iowa hatte das Familienensemble eine eigene Radioshow, in der die Hadens sowohl populäre Stücke der damaligen Zeit vortrugen als auch von Carl Haden geschriebene Originale wie “Moberly Mine Disaster” und “Ozark Moon”.

“Meine Eltern tingelten durch das ganze Land. Sie reisten von einem Radiosender zum nächsten, um aufzutreten”, erinnert sich Charlie. “Sie befanden sich gerade auf dem Weg nach Des Moines, als sie von einem Schneesturm aufgehalten wurden und einen Zwischenstop in einem Motel in Shenandoah einlegen mußten. So rief mein Dad kurzerhand beim lokalen Radiosender an und fragte, ob sie dort vorsingen dürften. Sie wurden vom Fleck weg engagiert und blieben dort hängen.”

Charles Edward Haden kam am 6. August 1937 in Shenandoah/Iowa zur Welt. Daß er musikalisches Talent besaß, bewies er mit seinem ersten öffentlichen Auftritt im Alter von gerade einmal 22 Monaten. Die frühreife Darbietung von “Little Cowboy Charlie” wurde damals glücklicherweise aufgezeichnet und kann nun im vorletzten Track der CD “Rambling Boy” als Teil der “Old Haden Family Show” gehört werden. Direkt im Anschluß daran singt dann der nunmehr 71jährige Charlie Haden als Hommage an seine Eltern “Oh Shenandoah”.

Als Charlie Haden vier Jahre alt war, zog die Familie nach Springfield/Missouri um, wo sie ein Engagement beim Sender KWTO (“Keep Watching The Ozarks”) erhielt. In einem Interview mit Amy Goodman für “Democracy Now!” erinnerte sich Charlie an diese Zeit: “Mein Vater war der Zeremonienmeister, er machte sämtliche Werbespots – für ‘Wait’s Green Mountain’-Hustensirup, ‘Sparkalite’-Cornflakes, die ‘Allstate’-Versicherung… wir hatten eine Menge unterschiedlicher Sponsoren. Und wir erhielten säckeweise Zuschriften aus dem ganzen Land.”

“Für mich war es eine großartige Erfahrung, immer eng mit meiner Familie zusammenzusein und mich dieser Musik hinzugeben. Mein Leben war von Musik erfüllt, und ich lernte im Schoß der Familie sehr viel über Harmonie- und Melodiegesang.

”Durch die Polioerkrankung, die er als 15jähriger erlitt, wurden seine Stimmbänder so sehr geschwächt, daß Charlie das Singen aufgeben mußte. Ab diesem Zeitpunkt widmete er sich ganz dem Baßspiel, das er schon ein paar Jahre vorher begonnen hatte. Sein musikalisches Leben sollte sich für immer ändern, als er Charlie Parker bei einem “Jazz At The Philharmonic”-Konzert in Omaha/Nebraska hörte."Das war der Moment, in dem ich beschloß, fortan Jazz zu machen", erzählt Haden. “Ich faßte den Entschluß nach Los Angeles zu gehen und dort mein damaliges Idol Hampton Hawes zu treffen. Um das notwendige Geld zusammenzubekommen, begleitete ich als Bassist andere Musiker, die in Springfield Station machten und in der Fernsehshow ‘The Ozark Jubilee’ auftraten.”

“Der Moderator der Show war erst Red Foley [1910–1968] und dann Eddie Arnold [1918–2008]. Unter Red Foley habe ich mit dem Gitarristen Grady Martin zusammengearbeitet und bei Eddie Arnolds später mit dem Gitarristen Hank Garland. Beide waren wunderbare Musiker, und wir nutzten jede Pause während der Aufnahmen, um über Jazznummern zu jammen… Ich habe immer wieder feststellen dürfen, daß wirklich gute Country-Musiker normalerweise auch leidenschaftliche Jazzfans sind.”

Charlie Haden Family & Friends: Rambling Boy

Die Entstehungsgeschichte von “Rambling Boy” nahm ihren Anfang vor rund zwanzig Jahren. In den späten 80er Jahren hatten Charlie und Ruth ihre schon flügge gewordenen Kinder zusammengetrommelt, um deren Großmutter in Missouri zu besuchen. Virgina feierte damals ihren 80. Geburtstag. “Ruth animierte uns bei der Feier dazu zusammen zu singen. Und bevor wir uns versahen, sangen unsere Kinder gemeinsam mit meinen Geschwistern, und sie harmonierten einfach prächtig. Es hatte sich alles sehr natürlich ergeben und wir amüsierten uns köstlich. Außerdem klang es so gut, daß ich gleich beschloß, daß wir dies eines Tages auch auf einer Platte machen müßten.”

1996 brachte Charlie Haden mit dem Gitarristen Pat Metheny (der aus Lee Summit/Missouri stammt) das Duo-Album “Beyond The Missouri Sky (Short Stories)” heraus. Eines der Highlights des Albums war “Precious Jewel”, ein Stück des weltbekannten “King of Country Music” Roy Acuff [1903–1992], ein weiteres eine achtminütige Version des von Charlies Sohn Josh komponierten “Spiritual”, den Johnny Cash im selben Jahr für sein Album “Unchained” aufgenommen hatte.

Im Februar 1997 erhielten Haden und Metheny für “Beyond The Missouri Sky” einen Grammy in der Kategorie “Beste instrumentale Jazzdarbietung”. “Als ich bei den Grammys hinter der Bühne Interviews gab, kamen Ricky Skaggs und sein Bassist Mark Fain vorbei”, erzählt Haden. “Mark trat an mich heran und sagte: ‘Charlie, ich besitze jede Platte, die du je gemacht hast. Du solltest eine Country-Platte machen, um den Leuten zu zeigen, wo du herkommst. Jeder Musiker in Nashville kennt dich und weiß, was deine Töchter für Musik machen…’ Ich hatte Mark noch nie zuvor getroffen!”

Zwei der Haden-Töchter – Bassistin/Sängerin Rachel und Violinistin/Sängerin Petra – spielten damals in der in Los Angeles beheimateten Band That Dog. Im September 1994 war die Band als Vorgruppe von Johnny Cash in der Carnegie Hall aufgetreten. “Rachel rief mich aus New York an und sagte: 'Dad, ich bin gerade mit June Carter im Aufzug gefahren und sie fragte mich: ‘Seid ihr etwa die Töchter von Little Cowboy Charlie Haden?’ Als ich neun Jahre alt war, war ich heftig in Junes jüngere Schwester Anita verknallt gewesen, die damals in der Carter Family Baß spielte… und leider schon fünfzehn war.”

Die Jahre verstrichen, aber Mark Fain gab nicht auf und rief Charlie immer wieder an, um ihn an die Idee des Country-Albums zu erinnern und ihn aufzufordern, sich nach Songmaterial dafür umzusehen. Im Juni 2007 lud Mark Charlie und dessen Frau Ruth Cameron endlich nach Nashville ein, wo er ein Treffen mit Musikern (darunter Jerry Douglas und Stuart Duncan) arrangierte, die auf “Rambling Boy” mitspielen wollten. Bei einem erinnerungswürdigen Besuch der “Grand Ole Opry”-Show traf Charlie außerdem den Country-Veteran Porter Wagoner wieder.

“Wir besuchten die ‘Opry’ an einem Abend, als Porter Wagoner in der Show auftrat. Porter kannte meine Eltern und erinnerte sich noch gut an unser Programm. Er umarmte mich und meinte: ‘Charlie, es tut so gut, dich zu sehen.’ Das war nur ein paar Monate bevor er [am 28. Oktober 2007] starb, und ich werde diese Begegnung nie vergessen.”

Gegen Ende des Jahres 2007 kam Mark Fain dann nach Los Angeles, um mit der gesamten Haden Family zu proben. “Wir spielten einfach alles einmal durch und feilten noch etwas an den Harmonien herum. Dann waren wir fit für die Aufnahmen und trafen uns im Januar 2008 in Nashville wieder.”

“Ich wußte, daß ich im Januar wahrscheinlich die einzige Chance haben würde, Vince Gill und Ricky Skaggs und all die anderen Nashville-Musiker zuhause anzutreffen”, erklärt Charlie Hadens Frau und Produzentin Ruth Cameron, “den Rest des Jahres sind sie alle auf Tournee. Wir verbrachten eine Woche in Ricky Skaggs' Studio, wo wir mit dem unglaublich guten Toningenieur Bill Vorn Dick zusammenarbeiteten. Nahezu alles, was man auf dem Album hört, wurde im Studio live eingespielt und eingesungen.”

“Während der gesamten Aufnahmesessions spürte ich die Liebe und Hingabe dieser Musiker, und ich denke, das bringt die Musik des Albums auch herüber”, meint Charlie Haden abschließend. “'Rambling Boy' ist nicht nur meine Lebensgeschichte, es ist eine Hommage an meine Eltern und ein Vermächtnis an meine Kinder.”

Und ganz sicher ist “Rambling Boy” auch ein einzigartiges Album eines einzigartigen amerikanischen Musikers.

PRESSESTIMMEN:

Süddeutsche Zeitung 23.10.2008
“Die Seele des Herzlandes: Jazzavangardist Charlie Haden hat eines der besten Country-Alben der letzten Jahre eingespielt: Rambling Boy.”

Musikexpress 10/2008:
“Mit Pat Metheny und Elvis Costello hat sich der Marathonbass-Mann Haden auf die Country- Spuren gemacht… und im Finale, mit dem die Haden-Chronik im Hier und Jetzt angkommen ist, hört man die nun sanft-melancholische Stimme des weisen Charlie Haden, wie er nur von Metheny begleitet und scheinbar mit einer Träne im Knopfloch eine Ode an seine Eltern und seine Heimatstadt Shenandoah zelebriert. Schöne, alte Welt.”

WOM 10/2008
“Wohl dem, der eine Familie hat, die ihr enormes Können hinter so ungezwungener Spielfreude zu verbergen weiß.”

Melodie & Rhythmus 10/08
“Die Platte bläst den Staub der Prärie durch die Ohren.”

Style 10/2008
“Live, direkt, lebensnah und rührend.”

TIP 10/2008
“Das wird viele überraschen:Charlie Haden goes Americana! So freigeistig wie der Bassist an der Seite von OrnetteColemann undCarla Bley muffige Jazzkonventionen aufgemischt hat, pustet er jetzt den Staub von der Rootsmusik seiner US-Heimat.”

Financial Times Deutschland  31.10.08:   
“Diese Countryplatte ist eines der besten Jazzalben des Jahres”

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