Das mit Hochspannung erwartete, brandneue Album von Cecilia Bartoli ist auf dem Markt. Die italienische Starsopranistin widmet sich darauf dem brillanten Kastraten Carlo Broschi alias Farinelli, eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten des 18. Jahrhunderts. Farinelli war ein Superstar des Barock. Er inspirierte zahllose Komponisten seiner Zeit zu hinreißenden Arien, die eigens auf den beweglichen und farbenreichen Charakter seiner Gesangskunst zugeschnitten waren. Ob in Neapel oder Rom, in Wien, London, Paris oder Madrid, Farinelli sorgte, wo er auch in Erscheinung trat, für Aufsehen. Seine soghafte Ausstrahlung, sein von Zeitgenossen vielfach bezeugtes Geschick, Frauenrollen glaubhaft zu verkörpern, und seine betörend klare, weich fließende Stimme machten ihn zu einer absoluten Ausnahmeerscheinung der Künstlerszene im Europa des Spätbarock. Farinelli verfügte über eine virtuose Atem- und Gesangstechnik, die er sich als Privatschüler des großen Komponisten und Gesangslehrers Nicola Porpora angeeignet hatte. Sein Stimmumfang reichte vom Tenor bis zum hohen Sopran.
Liebe, Leidenschaft und Grazie
“Farinelli” ist das zweite Album, das die Bartoli einem Kastraten widmet. Wie das erste, ihr Grammy-gekrönter Meilenstein “Sacrificium” (2009), hat sie es – bis auf eine Arie – mit dem Mailänder Kammerensemble Il Giardino Armonico unter der Leitung von Giovanni Antonini aufgenommen. Die virtuose Klasse und das lyrische Gespür des auf historische Aufführung spezialisierten Orchesters sind außerordentlich. Im Zusammenklang mit dem überwältigenden Schöngesang der Bartoli entsteht eine flirrende Stimmung fortwährender Hochspannung.
“Farinelli” versammelt die reizvollsten Arien aus der musikalischen Einflusszone von Carlo Broschi. Cecilia Bartoli singt auf ihrem neuen Album von Liebe und Leidenschaft, von Sehnsucht und von Schmerz. Neben hinreißenden Kompositionen von Johann Adolph Hasse, Geminiano Giacomelli und Antonio Caldara zieren zwei Welterstveröffentlichungen das Album: Nicola Porporas feierlich anmutende Arie “Lontan… Lusingato dalla speme” und die vor Begeisterung sprühende Arie “Si, traditor tu sei” von Riccardo Broschi, dem Bruder des schillernden Kastratensängers.
Die beiden Erstveröffentlichungen können als repräsentativ für das gesamte Stimmungsspektrum des neuen Albums von Cecilia Bartoli gelten. “Farinelli” changiert zwischen bravourösen und intimen Arien. Riccardo Broschis Arie aus “La Merope” offenbart, welch unvorstellbare Koloraturen und emotionale Ausdrucksnuancen sein berühmter Bruder beherrscht haben muss. Die Bartoli lässt uns in flamboyanter Manier daran teilhaben. Erhabenes Flair verleiht sie hingegen der Arie von Nicola Porpora. “Lontan… Lusingato dalla speme” aus “Polifemo” fließt sanft dahin.
Cecilia Bartoli als Dragking
Cecilia Bartoli ist weit davon entfernt, Farinelli auf seinen sängerischen Glanz zu reduzieren. Es sei kein Zufall, betont sie, dass sie gerade jetzt, wo der “Missbrauch der körperlichen Integrität von Künstlern” so intensiv diskutiert werde, ein “Kastratenalbum” vorlege. Das “Phänomen sollte”, so Bartoli, “aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden, ohne den schrecklichen Kontext außer Acht zu lassen.” Auf dem Cover ihres neuen Albums posiert die Sängerin als Dragking mit Vollbart, tief versunken schauend. Das ist mehr als ein Statement. Das ist Einfühlung in eine fremde Lebensform, die so viel Schmerz, aber auch so viel musikalische Schönheit gebar. Nicht zuletzt hat Bartoli genau diese ambivalente Erscheinungsform in ihrer hochgelobten “Ariodante” Produktion bei den Salzburger Festspielen 2017 gewählt.
Der zwischen den Geschlechtern wandelnden Künstlerpersönlichkeit Farinelli sucht die große Mezzosopranistin auch auf der Bühne Ausdruck zu verleihen. Cecilia Bartoli befindet sich seit dem 23. November 2019 auf Europa-Tournee. Sie reist mit dem Barockensemble Les Musiciens du Prince-Monaco. In den kommenden Wochen ist sie in Luxemburg (8. Dezember), Amsterdam (10. Dezember), Brüssel (12. Dezember) und Paris (15. Dezember) zu erleben.