Im Bereich der Musik gibt es kaum etwas, das so spannend ist wie der Sound einer jungen Band, die es obendrein auch noch eilig hat. Dringlichkeit, Offenheit für Neues, Tatendrang, Risikobereitschaft, keine Angst vor Experimenten, neuen Wegen – alles Eigenschaften, die eine Band zu einem interessanten Phänomen, zu einer Ausnahmeband machen können. Das neue Album von Bombay Bicycle Club, das dritte in gerade mal drei Jahren, erinnert einen daran, dass es mal eine Zeit gab, in der junge Bands noch jedes Jahr ein Album veröffentlichten und mit jeder Veröffentlichung die Grenzen ihres Reviers erweiterten, die Fans dazu brachten, ihre Meinungen und bisweilen sogar ihr ganzes musikalisches Weltbild noch einmal zu überdenken. Wie im Titel schon angekündigt, klingt nun auch „A Different Kind Of Fix“ ganz anders als das, was man vielleicht von dieser Band erwarten würde. Genauer gesagt begegnet man hier einer Band, die ihre Scheuklappen gänzlich abreißt und existierende Urteile komplett über den Haufen wirft.
Die Mitglieder von Bombay Bicycle Club haben noch nie lange gefackelt. Frontmann Jack Steadman, Gitarrist Jamie MacColl (übrigens der Enkel von Folklegende Ewan und der Neffe der verstorbenen Kirsty MacColl), Bassist Ed Nash und Schlagzeuger Suren de Saram gründeten ihren Club im Jahr 2006 im Norden Londons, wo sie damals noch die Schulbank drückten. Noch im selben Jahr gewannen sie bei einem Wettbewerb, dessen erster Preis ein Auftritt beim V Festival war, veröffentlichten im Jahr darauf zwei EPs und schrieben schließlich ihr Debütalbum „I Had The Blues But I Shook Them Loose“ – quasi zwischen den Hausaufgaben. Dieser erste Longplayer erschien dann 2009 und wurde in UK im Handumdrehen vergoldet.
An dieser Stelle würden die meisten jungen Bands wohl erst mal einen Gang runterschalten, sich ein Jahr Zeit nehmen, um sich neu zu formieren und den nächsten Schritt zu planen. Bombay Bicycle Club nahmen jedoch eine Abkürzung: Sie veröffentlichten schon im Jahr darauf ein vollkommen anders klingendes Album, „Flaws“, brachen damit in Richtung Folk auf und nahmen sogar ein paar grandiose Coverversionen (von Joanna Newsom und John Martyn) auf. Ihr Label war zunächst skeptisch, das zweite Album schon so schnell nach dem ersten zu veröffentlichen – und ein Akustikalbum noch dazu! –, aber auch „Flaws“ ging in die britischen Top−10 und sollte schließlich sogar für einen Ivor-Novello-Award nominiert werden. „Meiner Meinung nach sollten Bands genau das versuchen: sich neu erfinden“, setzt der heute 21-jährige Jack an. „Ich kann ehrlich gesagt nicht verstehen, wie manche Bands es schaffen, immer wieder ein und dasselbe Album aufzunehmen. Mit der Veröffentlichung von ‘Flaws’ waren plötzlich alle Wege offen für uns. Seither können wir jede Art von Album aufnehmen und das machen, wonach uns der Sinn steht.“
Eine erste Richtung für das dritte Album war bereits in Jacks Soloexperimenten angedeutet, die er schon letztes Jahr über Soundcloud und MySpace veröffentlichte: eine Reihe von Tracks, die deutlich von J Dillas Beats und den intergalaktischen Electronica-Welten eines Flying Lotus inspiriert waren. Wiederum ein krasser Bruch also nach den minimalistisch-organischen Folkmelodien von „Flaws“, allerdings musste diese Seite irgendwann zum Vorschein kommen: Schließlich macht Jack nebenher schon seit Jahren elektronische Musik. Hobby-Bedroom-Producer ist er nämlich schon seit er 14 ist, als er Künstler wie Aphex Twin und Boards of Canada entdeckte. „Bei der Art von Sound klingt das erstmal wie das Werk eines Zehnjährigen, zumindest für eine ganze Weile, bis man sich ein bisschen besser damit auskennt“, so Jack. „Wenn du nicht so toll mit der Gitarre umgehen kannst, ist das halb so schlimm. Wenn du Glück hast, klingt dein Song trotzdem gut; aber was elektronische Musik angeht, musst du schon richtig wie ein Nerd abgehen. Ich hab schon sehr viel Zeit mit meinem Equipment verbracht…“
Schließlich holte die Band erneut ihren Stammproduzenten Jim Abbiss (Arctic Monkeys, Kasabian) hinzu, um vergangenen Herbst mit ihm in London sowie im Anschluss daran, im Februar, in Hamburg ins Studio zu gehen. Darüber hinaus flogen sie im April nach Atlanta, um die Songs „Shuffle“, „Your Eyes“ und „Favourite Day“ mit Ben H. Allen (Animal Collective, Gnarls Barkley, M.I.A.) aufzunehmen. Nebenan war Tinie Tempah im Studio. „Also schaute er auch bei uns rein“, berichtet Jack. „‘Ich bin der größte Fan von euch, wann arbeiten wir endlich mal zusammen’ – er hat mal eben alle um seinen Finger gewickelt mit seinem Charme.“ Abgemischt wurde das neue Album schließlich von Craig Silvey (Arcade Fire, Portishead, The Horrors).
„Wir hatten die ganze Zeit davon geredet, das Album an einem einzigen Ort aufzunehmen, mit einem einzigen Produzenten, und sind schließlich beim genauen Gegenteil davon gelandet“, so das Fazit von Jamie.
Auffällig ist, was für eine entscheidende Rolle die Produktion dieses Mal spielt; sie war gewissermaßen Teil des Songwriting-Prozesses, anstatt nur ein finaler Feinschliff zu sein. Viele der neuen Stücke nahmen erste Formen als Loops im Rechner an, waren Sample-Gebilde lange bevor daraus richtige Songs wurden, wie sie die Band jetzt präsentiert. Das Eröffnungsstück „How Can You Swallow So Much Sleep“, das schon als Demoversion auf dem Soundtrack von „Twilight: Eclipse“ vertreten war, läutet das Album mit massiven Dream-Pop-Weiten ein und schafft viel Raum für alles, was danach kommen soll. Die erste Single „Shuffle“ zum Beispiel: gebrochene HipHop-Beats treffen auf Highlife-Gitarren, zerhackte Klaviersamples und psychedelisch-bizarres Lagerfeuerallerlei à la Animal Collective, woraus sich insgesamt der vielleicht eingängigste Popsong des Sommers 2011 ergibt.
„Lights Out, Words Gone“ schlägt daraufhin eher in die Chillwave-Kerbe, wenn Gesangs-Loops und taufrische Balearic-Gitarren ineinander fließen. Der schillernde, extrem vielschichtige Sound von „Take The Right One“ entstand, nachdem Abbiss den Vorschlag gemacht hatte, gleich vier unterschiedliche Versionen von diesem Track aufzunehmen, jede mit noch mehr Effekten versehen als die davor, und sie dann alle vier Versionen gleichzeitig abspielten. „Leave It“ bedient sich schließlich sogar bei einer Puccini-Oper, deren Eröffnungsmotiv hier nun als eingängiges Gitarrenriff auftaucht, wobei die Singer/Songwriterin Lucy Rose (die auch auf „Lights Out, Words Gone“ zu hören ist) am Mikrofon aushilft.
Allerdings findet man auf dem neuen Longplayer auch Songs, die eher klassisch entstanden sind: „Beggars“ knüpft gewissermaßen an den „Flaws“-Vorgänger an, wenn minimalistischer Folk zu massiverem Rocksound heranwächst, die Seufzer im Gesang immer mehr die Oberhand gewinnen; ein anderes Beispiel dafür wäre „Fracture“, ein Stück, das schon während der „Flaws“-Tour entstand und nun fertig geschliffen, in einer Kirche aufgenommen und von der gesamten Band gemeinsam produziert wurde. „What You Want“ („…handelt davon, ein leichtes Opfer in Beziehungsdingen zu sein“) schlägt eine Brücke zurück zum Debütalbum, ja sogar noch weiter zurück, bis hin zum verregneten Indierock von Bands wie The Chameleons und Kitchens Of Distinction. „Still“, der im Alleingang produzierte Track, mit dem BBC das neue Album schließlich ausklingen lassen, ist eine Klavierballade mit Falsettgesang, ein Stück mit Thom-Yorke-Beigeschmack, wenn man so will. Eine sanfte Landung also nach einem rund 50-minütigen Klangabenteuer.
Wenn man ihn nach den Themen und Inhalten der neuen Platte befragt, weicht Jack aus. Dieses Mal seien die Texte eher als Andeutungen zu verstehen, als Fragmente und nicht als komplette Storys; und Jack fühlt sich besser damit: „Wir waren so jung, als wir anfingen. Wir waren deshalb auch noch ganz schön unreflektiert, und wir hatten ja nie damit gerechnet, dass irgendwer unsere Songs wirklich anhören würde. Der Grund, warum ich ursprünglich bei der Musik gelandet bin, war, dass ich einfach nicht in Worte fassen konnte, was ich loswerden wollte.“
Bombay Bicycle Club hatten von Anfang an die Jugend auf ihrer Seite. Dank diverser Tourneen und dem gezielten Einsatz sozialer Medien haben sie in den letzten paar Jahren eine Fanbase aufgebaut, die so loyal ist, dass selbst Songtext-Tattoos schon gesichtet wurden. „Ich dachte eigentlich immer, das alles passiert, weil unsere Fans genau in unserem Alter sind, sie also nach den Shows zu uns kommen, sich mit uns austauschen und sich mit uns identifizieren können“, meint Jack. Dabei ist „A Different Kind Of Fix“ ein gewaltiger Schritt in Richtung Erwachsensein: eine Platte, die einen sofort packt, gefangen nimmt, die ihre diversen Einflüsse und Ansätze im gefühlvollen und zugleich eindringlichen Songwriting von Jack miteinander verschweißt. Die unterschiedlichen Stränge, „I Had The Blues…“, „Flaws“ sowie Jacks Instrumentalaufnahmen und Beat-Experimente vom letzten Jahr verweben BBC hier zu einem gewaltigen Panoramabild, auf dem die unterschiedlichen Facetten ihres Schaffens zu sehen sind. Und wieder ist es ein massiver Einschnitt für die Band: nicht nur ihr bislang bestes Album, sondern zugleich ein Versprechen auf noch größere Songs, die noch geschrieben werden wollen…
„Heutzutage werden die Bands doch schon nach ihrem ersten Album in eine Schublade gepackt. Das war vor vierzig Jahren noch nicht so. Bei uns ist es nun mal so, dass wir permanent auf der Suche nach demjenigen Sound sind, den wir machen wollen“, sagt Jamie. „Und ich glaube kaum, dass wir ihn jetzt schon entdeckt haben.“
Bleibt nur zu hoffen, dass sie noch lange, lange mit dieser Suche beschäftigt sein werden.