Das muss sie sein: Anna F.. Toll sieht sie aus, wie sie mit wehendem Haar auf ihrem Second-Hand-Fahrrad heranrauscht. Treffpunkt ist ein Park in Berlin, das Wetter könnte kaum besser sein. Anna winkt, als sie heranradelt in ihren Jeans-Shorts und dem verwaschenen Trägerhemd. Und merkt man sofort, dass sie einer dieser seltenen Menschen ist, die man unmöglich nicht mögen kann. Mit ihrer angenehm unaufgesetzten Art nimmt Anna einen sofort für sich ein und lässt jeden Augenblick durch ihre bloße Präsenz wertvoll erscheinen, ohne sich dafür auch nur ansatzweise anstrengen zu müssen.
Wenn sie es von einem verlangte, man würde ihr ohne zu zögern seine zerbrechliche Seele anvertrauen. Aber das würde sie natürlich nie tun. An Seele und Zerbrechlichkeit hat sie schließlich selbst genug. Das ist auf ihrem neuen Album “King In The Mirror” ganz unmissverständlich herauszuhören. Doch bevor Anna mit leuchtenden Augen über ihre neue Platte spricht, erzählt sie am Ufer eines Parksees erst einmal von ihrem bisherigen Werdegang.
Aufgewachsen sei sie in der österreichischen Steiermark. In Friedberg. Einer 2.500-Einwohner-Gemeinde. Mit 11 lernt sie Gitarre spielen. Kurze Zeit später nimmt sie in ihrem Kinderzimmer bereits erste Eigenkompositionen mit dem Kassettenrekorder auf. Dann verliert sich Anna einige Jahre im Strudel pubertärer Sinnsuche, bis sie beschließt, beim Schulabschlusskonzert ihrer Schule aufzutreten. Anna fängt wieder Feuer, die Musik wird erneut zum bestimmenden Teil ihres Lebens.
Als sie zum Studieren nach Graz zieht, lernt sie Alex Deutsch Musiker, Musikproduzent und Artistmanager, kennen, mit dem sie fortan zusammenarbeitet. Und dann geht plötzlich alles sehr schnell: Annas Song “Time Stands Still” wird auf Myspace von einem Unternehmen entdeckt, das ihn unbedingt für ein Commercial lizensieren möchte. Doch dabei bleibt es nicht: Von der Werbung geht das Stück direkt ins Radio, und vom Radio direkt in die Charts. Als Anna kurz darauf in Innsbruck ein Konzert für Lenny Kravitz eröffnen darf, ist der auf Anhieb so begeistert von ihr, dass er sie für den Rest seiner Europa-Tournee als Support-Act mitnimmt. Dort spielt sie jeden Abend vor bis zu 15.000 Menschen und fällt die folgerichtige Entscheidung: “Meine Zukunft liegt in der Musik. In meiner Musik.”
Anna spricht frei von der Leber weg. Statt künstliche Mauern zwischen sich und anderen zu ziehen, baut sie lieber Brücken, über die man ihr nur zu gerne folgt. Man freut sich regelrecht für sie, wie sie mit ihrer offenen Art in breiter steirischer Mundart und dieser unwiderstehlichen Mischung aus kindlicher Freude und ehrlichem Stolz über das bisher Erreichte spricht: von ihrer Model-Zeit neben dem Studium; von der Gründung ihres eigenen Labels moerder music, auf dem sie 2010 ihr erfolgreiches Debütalbum “For Real” veröffentlicht; von ihrer mysteriösen Hauptrolle im Kinofilm “Invasion”, der 2012 beim World Film Festival in Montréal ausgezeichnet wurde; von der Arte-Dokumentation “On Jack’s Road”, in der Anna auf den Spuren von Jack Kerouac die Vereinigten Staaten bereist; oder von den unzähligen und von einem schrägen Sinn für Humor gekennzeichneten Spontan-Videos, die auf ihrem Youtube-Channel zu sehen sind.
Kreative Vielseitigkeit nennt man das wohl. Und Annas kreative Vielseitigkeit ist genauso beeindruckend wie die sympathische, fast schon unschuldig wirkende Euphorie, mit der sie darüber spricht; eine kreative Vielseitigkeit, die auf ihrem neuen Album “King In The Mirror” eine akustische Entsprechung findet; und eine kreative Vielseitigkeit, die Anna erst einmal zu zügeln lernen musste, um sich nicht in ihr zu verlieren. “Ich habe mir durch die Arbeit an dieser Platte neues Selbstvertrauen aufgebaut, ein neues Selbstverständnis von mir kreiert”, erzählt Anna. “In den vergangenen Jahren war es manchmal so laut um mich herum, dass ich gar nicht mehr hören konnte, wo ich selbst eigentlich hin will. Also musste ich diese ganze laute Welt mit all ihren Möglichkeiten beiseite schieben, bis nur noch ich selbst übrig war.” Und dieser Akt der Selbstfindung führte über L.A.
Dort traf sich Anna mit einigen der besten und erfolgreichsten Songwritern der Welt, mit Leuten wie Jimmy Harry (Madonna, Pink, Kylie Minogue), Rick Nowles (Lykke Li, Dido, Lana Del Rey) und July Frost (Rihanna, Lena). Eine spannende und lehrreiche Erfahrung, wie Anna einräumt; eine Erfahrung jedoch, durch die ihr vor allem bewusst wurde, wie sie nicht arbeiten möchte, und die das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten gestärkt hat. “In L.A. wollen alle nur Hit-Singles schreiben, weil man damit das meiste Geld verdient. Aber diese erzwungene Zielhaftigkeit hört man eben auch.” Stattdessen geht Anna nach Berlin, wo sie sich mit dem Produzenten Philipp Steinke (Boy) zusammentut. “Ich habe sofort gespürt, dass Philipp der richtige Mann ist. Bei ihm habe ich mich künstlerisch von Anfang an total wohl und aufgehoben gefühlt”, schwärmt Anna. Und man merkt ihr die Freude und Zufriedenheit über das nun vorliegende Resultat dieser Entscheidung in Albumform deutlich an.
War ihr Debütalbum noch vorwiegend in der Tradition klassischer Singer/Songwriter gehalten, ist “King In The Mirror” nun eine ganze Spur poppiger ausgefallen. Aber kein kitschiger Plastik-Pop, sondern Pop mit Kante; mit Haken und Ösen; mit eingängigen Melodien und Texten, die hängen bleiben, aber dennoch mit der nötigen Dreckigkeit, die den Songs das richtige Maß an Authentizität verleihen.
Man nehme nur mal die anrüchige Teaser-Single “DNA”, die Annas verwaschenes Bild des Mädchens von nebenan gekonnt bricht. Oder das verträumt ehrliche “Too Far”, in dem Anna sehnsuchtsvoll den immerwährenden Kampf im Zeichen der Liebe besingt. Oder das zurückgelehnt treibende “Van Gogh” über all die gelebten Parallelwelten im Kopf zwischen Angstneurosen und überbordendem Selbstbewusstsein. Oder den Titelsong “King In The Mirror”, den Anna zusammen mit dem ehemaligen EMF-Gitarristen Ian Dench geschrieben hat, und in dem sie das Gefühl der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung mit voluminöser Reduziertheit auf den Punkt bringt.
Überhaupt geht es auf der Platte häufig um die Dualität der Dinge: um Wahrheit und Fiktion, um Liebe und Hass, um Gestern und Morgen, um Angst und Mut, um sich selbst und um andere. Und darum, wie Anna F. all diese Gegensätze in sich vereint und mit “King In The Mirror” eine Platte aus diesem Umstand formt, der diesen Kontrast hörbar, spürbar, nachvollziehbar macht; wie sie den waghalsigen Weg zu sich selbst mit musikalischer Vielseitigkeit bestreitet, durch die sie ihre Zuhörer an die Hand nimmt und auffordert, ihr zu folgen; und zwar unbekümmert, unvoreingenommen und ohne Angst.
Und wie Anna so dasitzt im flimmernden Dunkel eines Schatten spendenden Baumes, in einem kurzen Moment der Stille und des Durchatmens nach einem ausführlichen Monolog über ihre Kunst und ihre Musik und ihr Leben, da weiß man plötzlich, dass es ihr zwar in der Tat nicht an Seele und Zerbrechlichkeit mangelt, aber dass sie eben auch genug Selbstbewusstsein und Stärke besitzt, um damit umzugehen.
“King In The Mirror, Queen Of The Shy” – Anna F. hat es auf ihrem neuen Album geschafft, die Gegensätzlichkeiten des Lebens hörbar, sichtbar und fühlbar zu machen; ihren persönlichen Geschichten eine Relevanz zu verleihen, die sie auch für jeden anderen nachvollziehbar macht; und ihrer musikalischen Vision ein ausdrucksstarkes Gesicht zu verleihen, das so schön und geheimnisvoll und ausdrucksstark ist wie ihr eigenes. Mindestens.