Im Land der Mitternachtssonne ticken die Uhren anders. Das trifft in besonderem Maße auf die Tage der Sommersonnenwende zu, wenn es kaum noch dunkel wird – und Norwegen, und mit dem Land auch die winzige Insel Giske, des Nachts in ein gespenstisches Zwielicht getaucht ist.
Denn ebenda, in Giske, spielten a-ha zur Sommersonnenwende im Juni 2017 die ersten zwei Akustikkonzerte ihrer Karriere – in unmittelbarer Nähe der an der Küste zum Nordatlantik gelegenen Stadt Ålesund, die heute vor allem als Halt für Kreuzfahrtschiffe auf der Hurtigruten bekannt ist und während der kurzer Sommersaison Tag für Tag unter dem beständigen Ansturm der Kreuzfahrt-Tagestouristen ächzt. Indes: Die Zuschauer, die zu den beiden a-ha-Konzerten von überall her mit dem Flugzeug – mit einem Zwischenhalt in Oslo – anreisten und zu allem Überfluss von Ålesund noch zwei schier endlose, beängstigend tiefe Unterwassertunnel durchfahren mussten, bevor sie schließlich die wunderschöne und, nun ja, entlegene Insel Giske erreichten, stellten sich allesamt eine Frage: Weshalb nur hatten a-ha von allen möglichen Orten gerade diesen für ihre lang erwarteten, ersten MTV Unplugged Konzerte gewählt – ebendort, wo die Welt aufzuhören scheint…
Pål Waaktaar-Savoy: “Dass die Wahl auf Giske fiel, erklärt sich wie jede Entscheidung, die wir bei a-ha treffen: Es prallen 50% Zufall auf 50% Plan. Tatsächlich diskutierten wir viele verschiedene – darunter Manaus am Amazonas, Berlin, London und New York. Schlussendlich war das Ocean Sound Recordings Studio in Giske ausschlaggebend. Wir wussten, dass wir dort ungestört in einem extrem gut klingenden Raum proben konnten.”
Mit Blick auf das Meer, begaben sich a-ha im Ocean Sound Recordings Studio auf eine Reise in die eigene Vergangenheit – zwei Wochen lang probte die Band vor den beiden Konzerten die akustischen Arrangements ein, an denen ihr Produzent Lars Horntveth zuvor ein halbes Jahr lang gefeilt hatte. Die nahegelegene Øygardshallen, eine leerstehende, moderne Mehrzweckhalle, entpuppte sich dabei als geradezu perfekter Auftrittsort, da nur noch Kabel von A nach B verlegt werden mussten, um die beiden MTV-Unplugged-Konzerte nach allen Regeln der Kunst aufzuzeichnen.
In der Øygardshallen spielten a-ha schließlich vor nur je 250 Zuschauern – wobei die Glasfassade der Halle es dem Publikum erlaubte, immer auch in die fahle Nacht hinter der Bühne zu blicken – sowie auf eine Reihe dezenter Hi-Tech-LED-Video-Stelen, die auf der Wiese hinter der Halle installiert worden waren. Dass die beiden MTV-Unplugged-Auftritte nach nur wenigen Minuten ausverkauft waren, verwundert im Rückblick kaum, denn “dies waren die mit Abstand intimsten Konzerte, die wir je gegeben haben”, erklärt Magne Furuholmen: “Wir waren noch nie so nah an unserem Publikum wie in Giske.”
Die Schönheit des Nordatlantiks, das Licht der Mitternachtssonne wie auch die Exklusivität des Events erzählen aber nur die eine Hälfte der Geschichte. Der zweite Erzählstrang berichtet davon, dass a-ha in Giske begannen, ihren immensen Backkatalog zu durchforsten und ausgewählten Songs komplett neue Arrangements zu verpassen und sie auf ihre kompositorische Essenz zu reduzieren.
Pål: “Wir haben diese Idee jetzt mehrere Jahre lang diskutiert. Und auf vielen unserer Konzerte spielten wir auch einzelne akustische Songs. Wenn man aber bedenkt, dass wir so gut wie keine Technik benötigen, während wir die Songs schreiben, ergibt die Idee rein akustischer Shows viel Sinn. All diese Songs nun in akustischen Arrangements zu spielen fühlt sich für uns an, als kehrten wir zu ihren Demoversionen zurück.”
“Das Ganze geht noch viel tiefer”, ergänzt Magne: “Die meisten unserer Songs sind auf in unserer Kindheit erfahrene Einflüsse zurückzuführen, in denen wir der norwegischen Kultur direkt ausgesetzt waren – nicht zuletzt der nordischen Folk Music. Über die Jahre haben uns immer wieder Journalisten darauf angesprochen, dass es etwas typisch Norwegisches in unserer Musik gäbe, obwohl wir doch in London lebten und arbeiteten. Vermutlich lag es gerade daran, an der großen Distanz zu unserer Heimat, dass wir unbewusst unsere norwegische Mentalität ausgelebt haben. Die norwegische Geschichte ist voller solcher Beispiele – die größten unserer Künstler schufen ihre wichtigsten Werke im Exil, weit weg von Zuhause. Henrik Ibsen schrieb mit einem starken norwegischen Einschlag über die großen Menschheitsthemen, als er in Italien lebte. Und Edvard Munchs melancholische Kraft entfaltete sich in seinen expressionistischen Bildern, als er in Berlin lebte. Und natürlich dürfen wir Edvard Grieg nicht vergessen, der sich zeitlebens direkt auf die norwegische Folk Music bezogen und uns drei in unseren Jugendjahren schwer geprägt hat. Unsere Identität ist von diesen starken Vorbildern und Einflüssen geprägt. Und so erklärt es sich auch, weshalb es in unserer Musik einen so dunklen, melancholischen Einschlag gibt. Wir fühlen uns mit den genannten Vorbildern eng verbunden. Indem wir jetzt zurück nach Norwegen gingen, machten wir nichts anderes als einen natürlichen, folgerichtigen Schritt.”
Morten Harket verweist in diesem Zusammenhang auf die zentrale Rolle von Arrangeur und Produzent Lars Horntveth. Dieser sei spielentscheidend gewesen, als Katalysator und furchtloser Antreiber im Hintergrund: “Er befruchtete unsere Musik mit völlig neuen Arrangements. Er berührte sogar Elemente, die wir als 'unantastbar’ deklariert hatten – wir empfanden seine forsche Art zunächst als respektlos. Er konfrontierte uns mit radikalen Ideen, und wir hassten ihn dafür. Das meine ich im Rückblick aber als großes Kompliment. Denn ganz offensichtlich brauchten wir genau diese Respektlosigkeit, genau dafür hatten wir ihn schließlich auch angeheuert. Wir benötigten eine starke Persönlichkeit, die jede Facette dessen in Frage stellte, was wir als Band repräsentierten. Natürlich kam es zu lautstarken Auseinandersetzungen. Das ist aber ein Teil des kreativen Prozesses. Lars gebührt der Dank dafür, dass wir als Band wieder enger zusammengerückt sind – weit enger als wir es seit einer sehr, sehr langen Zeit waren.”
Im Rahmen der MTV-Unplugged-Konzerte spielten a-ha insgesamt 17 ihrer Songs in komplett neuen Arrangements. Außerdem gab es zwei Uraufführungen neuer Songs sowie zwei Coverversionen. a-ha und ihre Begleitband spielten ausschließlich auf akustischen Vintage-Instrumenten. Im Einzelnen bestand die Band aus Karl Oluf Wennerberg am Schlagzeug, Even Ormestad am akustischen Bass, Morten Qvenild am Klavier und verschiedenen akustischen Keyboards, Lars Horntveth am Saxofon und diversen Instrumenten sowie Madeleine Qvenild an der Violine und als Backgroundsängerin, Tove Margrethe Erikstad am Cello und Madeleine Ossum an der Viola und als Backgroundsängerin.
Insgesamt vier prominente Gastsänger sangen Duette mit Morten Harket. Mit großer Geste wurde Ian McCulloch, der Sänger und Kopf von Echo & The Bunnymen, am ersten Abend von a-ha auf der Bühne begrüßt. Gemeinsam sangen Morten und Ian die Songs “Scoundrel Days” sowie Echo & The Bunnymens Hit “The Killing Moon”. Am zweiten Abend begrüßten a-ha die Yazoo-Sängerin Alison Moyet – sie sang mit Morten “Summer Moved On”. Ingrid Helene Håvik von Highasakite war an beiden Abenden Mortens Duettpartnerin bei “The Sun Always Shines on TV”. Und last, but not least interpretierte die amerikanische Sängerin Lissie gemeinsam mit Morten “I’ve Been Losing You”.
Morten Harket: “In der kakophonischen Welt der Popmusik wird jede Idee auf die Spitze getrieben – mit Effekten und durch High-End-Produktionen. Die eigentliche Musik kommt dabei oft unter die Räder eines Prinzips, das besagt, das im Pop stets alles größer und toller sein muss als in Wirklichkeit.”
Wie ernst a-ha die sich ihnen gebotene, einmalige Chance der akustischen Konzerte in Giske genommen haben, zeigte sich während der abschließenden Proben vor Ort. Die gesamte Band, und insbesondere Morten stellten noch einmal jedes neue Arrangement auf den Prüfstand, begannen Songs anzuspielen, um sie kurze Zeit später abrupt wieder abzubrechen und zu diskutieren – es wurden Details in Punkto Sound, Spielweise und Arrangement debattiert. Die beiden Konzerte profitierten enorm von dieser Sorgfalt. Einerseits legen die neuen Arrangements tatsächlich die Seele und die Essenz der Songs von a-ha offen. Andererseits schafften es a-ha, den Spannungsbogen beider Shows dramaturgisch geschickt auf einen Höhepunkt hin aufzubauen, der selbst die abgebrühtesten Fans mit Tränen in den Augen hinterließ: Zur Zugabe nämlich spielten a-ha – “wie üblich” – ihren bis heute größten Smash-Hit, “Take On Me”. Allerdings erlaubten sich a-ha einen unangekündigten, überraschenden Akkordwechsel im Refrain sowie eine radikale Abkehr vom bekannten Arrangement, mit dem Effekt, dass der Song in seinem ganz neuen Gewand eine ganz neue Lesart seines Textes anbot.
Magne: “Wenn man sich anschickt, Songs zum ersten Mal akustisch zu spielen, dann ist dies vor allem auch die Herausforderung mehr zu wagen, als diese Songs bloß zu vereinfachen. Ich bin überglücklich, wie sich ‘Take On Me’ in diesem Sinne verändert hat: Ein up-tempo Synthie-Pop-Song verwandelte sich in eine langsam fortschreitende, melancholische, sehnsuchtsvolle Ballade. Damit reiht sich der Song mit einem Mal ein in die Riege von Songs wie ’Scoundrel Days’, die ähnlich gedankenvoll und dunkel sind.”
Es gibt nur wenige Bands in der Welt, die auf eine ähnlich enge Beziehung mit dem Musik-TV-Sender MTV zurückblicken wie a-ha. Neben Yello und Duran Duran waren es vor allem a-ha, die heute international als Pioniere des Musikvideos gelten – weil sie zu den Ersten gehörten, die Musikvideos sowohl eine narrative wie auch eine kommerzielle Kraft verstanden haben. Bestes Beispiel hierfür ist der von Steve Baron gedrehte, heute als Klassiker geltende Clip zu “Take On Me”, der 2003 von den Zuschauern von MTV in die Top Ten der besten Videos aller Zeiten gewählt wurde. Tatsächlich bemühten sich a-ha und MTV schon seit Längerem um die Möglichkeit, ein Unplugged-Konzert auf die Bühne zu bringen.
Die beiden Shows in Giske hinterließen nicht zuletzt auf a-ha einen bleibenden Eindruck. Es ist kein Geheimnis, dass das Trio in seiner mittlerweile über 30-jährigen Weltkarriere seine Probleme gehabt hat – mehrere Bandauflösungen und Wiedervereinigungen sprechen Bände.
Magne bestätigt: “Nach über drei Jahrzehnten haben sich a-ha zu einer Band entwickelt, die nur noch von Projekt zu Projekt denkt. Dieser Ansatz erwies sich als Schlüssel zu einem neuen, viel gesünderen Selbstverständnis. Und in diesem Sinne hatte auch der Schritt akustisch zu spielen den Charakter eines Projekts.”
Pål: “Als wir unsere letzten Alben aufgenommen haben, arbeiteten wir teilweise ganz schön isoliert voneinander. Dieses Mal arbeiteten und spielten wir über mehrere Wochen gemeinsam im selben Raum und erlebten zusammen, wie wir etwas Neues erschufen. Wir mögen uns über viele Dinge streiten, aber zugleich sind wir auch eine Band mit extrem engen Banden.”
Nach dem nicht abebben wollenden Schlussapplaus verlassen a-ha die Bühne durch eine Tür in der Glasfront der Øygardshallen in die taghelle Nacht. Sie haben soeben das zweite ihrer beiden triumphalen Akustikkonzerte beendet, und durch die Fenster kann das Publikum verfolgen, wie die drei Bandmitglieder getrennt voneinander in drei auf sie wartende Limousinen steigen und im diesigen living daylight der Nacht verschwinden. Allen Konzertbesuchern war spätestens in diesem Moment klar, dass a-ha mit ihren zwei Auftritten ein neues Kapitel ihrer beispiellosen Karriere aufgeschlagen haben.