Seit dem letzten Album von vor drei Jahren ist viel passiert im Leben von Adel Tawil. Da war ein lebensgefährlicher Unfall, bei dem er sich viermal ein und denselben Halswirbel gebrochen hat – “wenn ich Ärzten das Foto vom Wirbel zeige, dann glauben sie nicht, dass ich das bin. Sie sagen, dieser Mann müsste tot sein, oder vom Hals abwärts gelähmt, aber das bin tatsächlich ich” – da war die Scheidung von seiner Ehefrau, die er erst im Jahr 2011 geheiratet hatte und mit der er insgesamt über ein Jahrzehnt zusammen war – “ich muss sagen, das war mein persönlicher Tiefpunkt.”
Da waren die großen künstlerischen und beruflichen Erfolge und die absoluten privaten Tiefschläge. Der Medienrummel um sein Privatleben auf der einen Seite und die ausverkauften Hallen vor einem euphorisierten Publikum. Da war ein Solo-Album, das mittlerweile fünffach mit Gold ausgezeichnet worden ist und eine wahnsinnig erfolgreiche Tour. Da war Trennung und Schmerz.
Da war das Glück und der Erfolg in einer langen steinigen Karriere, dazu noch eine Hochzeit, die eine glückliche Beziehung krönen sollte. Das Glück schien komplett. Adel Tawil war endlich ganz oben angekommen. Er hatte die Schatten der Vergangenheit hinter sich gelassen. Und dann mit einem Mal, ist alles kaputt. “Ich muss schon sagen, das war eine ziemliche Achterbahnfahrt in den letzten Jahren. Ein ziemliches Durcheinander.”
Rückblende 2013: Adel Tawil arbeitet an seinem
Album “Lieder”. Der Künstler ist nervös, denn obwohl er schon seit so vielen Jahren im Musikgeschäft ist, fühlt es sich an, als würde er an seinem Debutalbum arbeiten – und irgendwie ist es das ja auch. Nach seinen musikalischen Anfängen bei der Boyband
“The Boyz”, folgte auf den ersten kometenhaften Aufstieg auch schnell die Ernüchterung. So schnell das Projekt die Charts gestürmt hatte, so schnell waren “The Boyz” auch wieder vergessen. Niemand wollte mehr mit dem talentierten jungen Mann zusammen arbeiten. Auch wenn die Stimme großartig war. Ein Typ aus einer Boyband? Lieber nicht. Das änderte sich erst, als Adel Tawil die große Songschreiberin
Annette Humpe kennen lernte und mit dieser zusammen die Band
Ich+Ich gründete. Das Duo wurde zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Acts der neueren Popgeschichte, nun aber will sich Adel selbst beweisen und verlässt das schützende Nest von Ich+Ich. Die Frage, die sich alle stellen, die Frage, die sich Adel Tawil zu dieser Zeit an jedem einzelnen Tag stellt: Schafft er es? Kann er an den Erfolg anknüpfen? Kann er bestehen, ohne die Band, ohne Ich+Ich? – Adel Tawil zweifelt und macht sich Sorgen.
Heute. Drei Jahre später kann man sagen, er hat es geschafft. “Lieder” ist eines der erfolgreichsten Alben der jüngeren Pop-Geschichte. Über 500.000 Tausend verkaufte Einheiten und ausverkaufte Tourneen sprechen eine eindeutige Sprache. Ein Popmärchen.
Doch so sehr ihn der Höhenflug auch beflügelt, der Scherbenhaufen seiner Trennung bringt ihn doch mehr durcheinander als ihm lieb ist und die Arbeit an einem weiteren Tonträger gestaltet sich schwieriger als gedacht. Eigentlich wollte Adel Tawil die Arbeit am nächsten Soloalbum in Los Angeles beginnen. "New York und Los Angeles sind gute Städte, um etwas Neues anzufangen. Diese Städte geben einem, zumindest am Anfang, immer eine gute Energie. Die haben diesen amerikanischen “just do it”-Spirit und alle Menschen, die man dort trifft, haben diesen bestimmten Aktionismus. Später stellt man dann fest, dass einem das auf die Nerven gehen kann und irgendwie kam ich nicht weiter." Irgendwie klappte es nicht mit der Magie der großen Städte und der Funke will nicht so recht überspringen.
Adel ist ruhelos. Nach all den Aufregungen um sein Privatleben, sucht er verzweifelt nach einem Ort, an dem er nun endlich mit der Arbeit an seinem neuen Album loslegen kann. Selbstzweifel quälen ihn. Wie soll er anfangen? “Was mache ich jetzt? Was soll ich erzählen? Soll es ein Konzeptalbum werden oder soll ich die privaten Sachen erzählen? Die ganzen persönlichen Geschichten? Muss ich diese Geschichten überhaupt erzählen? Irgendwie hatte ich schon das Gefühl, dass ich sie erzählen muss, aber ich wusste nicht wie?”
Adel Tawil ist ratlos, als er sich durch einen Zufall an das Angebot eines alten Freundes erinnert, der inzwischen auf Hawaii lebt und der ihn irgendwann einmal eingeladen hat, dort Zeit zu verbringen.
Eine Einladung, wie sie zu dutzenden ausgesprochen wird. Eine Einladung, die man normalerweise sofort wieder vergisst. Nun aber kommt ihm diese Einladung allerdings wieder in den Sinn und Adel steigt in ein Flugzeug um zu seinem Kumpel nach Hawaii zu fliegen, der dort auf Big Island lebt, mitten im Dschungel. “Da gibt es nichts. Gar nichts. Der hat ein paar Solarzellen auf dem Dach, um sich selbst mit Strom zu versorgen und eine selbstgebaute Dusche. Ab und zu mal eine Gasflache, ansonsten gibt es da nichts, das war’s. Als ich dann über den Berg gefahren bin, auf dessen Rückseite er wohnt, war plötzlich alles still. Im Radio kam nur noch Rauschen. Ich konnte keinen einzigen Sender mehr empfangen und mein Handy war tot. Plötzlich war alles weg. Ich war abgeschnitten von jeglicher Kommunikation. Ich konnte niemanden mehr erreichen und niemand konnte mich erreichen. Da wusste ich: Das war die beste Entscheidung meines Lebens. Jetzt kann ich arbeiten.”
Und Adel arbeitet. Befreit vom Ballast der Vergangenheit, befreit vom Medienrummel, befreit von der eigenen Lähmung legt er los und im Gegensatz zum Vorgängeralbum, verläuft die Arbeit selbstbewusst und mutig. “Dort habe ich beschlossen, eine ganz andere Platte zu machen. Ich habe mich für Andreas Herbig, den Boogieman, als Produzenten entschieden, einen meiner längsten Weggefährten in meiner musikalischen Laufbahn. Er sollte den Sound machen. Das sollte mein Album mit dem Boogieman werden. Das war mein Wunsch und plötzlich war auch diese Energie wieder da, dieses Gefühl, dass wir alles anders machen werden als bisher. Denn anders wollte ich es auf jeden Fall machen, weshalb das Album auch ‘So schön anders’ heißen wird.”
Doch bevor die beiden Musiker ihre Arbeit beenden können, muss Adel Tawil noch einen weiteren Schicksalsschlag hinnehmen. Die beiden Musiker Andreas Herbig und Adel Tawil befinden sich kurz vor der Endphase der Albumproduktion, die auf Hawaii so euphorisch begonnen hat.
Nach endlosen, enthusiastischen Studiosessions will sich Adel noch einmal ein paar Tage Abstand gönnen und final an den Texten arbeiten. Er wählt dafür Ägypten, wo er sich zurückziehen kann und in Ruhe nachdenken kann. Doch so richtig entspannend ist es nicht. Die weltweit und in Deutschland angespannte Situation beschäftigt ihn immer wieder. Die Unruhe und die alte Rastlosigkeit kehrt zurück, während die Tage drückend heiß sind und sich wie Kaugummi ziehen. Adel hängt am Pool herum, dessen Wasser durch die Hitze schon ein wenig verdampft ist. Vielleicht liegt es daran, dass sich nun weniger Wasser im Pool befindet als sonst, vielleicht ist es einfach nur Pech. Adel springt ins Wasser, um sich abzukühlen und prallt mit dem Kopf auf den Boden des Schwimmbeckens. Er taucht auf und hält sich den Nacken. Irgendetwas ist passiert, das spürt er. Irgendetwas ist nicht normal. Er geht ins Krankenhaus, wo sie ihn nach den ersten Röntgenaufnahmen panikartig fest auf eine Liege packen und fixieren.
Adel Tawils Halswirbel ist viermal gebrochen und es grenzt an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Er wird nach Deutschland ausgeflogen und in die Berliner Charité eingeliefert, wo er sich mit Hilfe der dort ansässigen Wirbelsäulenspezialisten wieder erholen kann. Adel Tawil hat noch einmal Glück gehabt. Großes Glück. Er ist dem Tod entronnen und es wäre gelogen, wenn man sagen würde, dieses Erlebnis hätte ihn nicht verändert. Natürlich hat es ihn verändert und es verändert auch noch einmal die Arbeit an seinem Album. Neue Themen und Blickwinkel kommen hinzu, der Lebenswille und die einfache Lebensfreude bricht sich Bahn. Ganz neue Songs entstehen, die das begonnene Album um Welten erweitern.
Das Songwriting geht leicht von der Hand. Adel erklimmt neue Höhen der Kreativität und findet auf “So schön anders” zu seiner ganz eigenen Ausdrucksform. “Ich habe einfach alles erzählt was mir passiert ist. Ich habe den ganzen Schmerz reingepackt und die ganz großen Glücksmomente. Ich habe über das geschrieben was ich in der Welt gesehen habe, in Europa und an den Außengrenzen von Europa, in Ägypten. Ich habe über das geschrieben, was mich und wahrscheinlich sehr viele Menschen beschäftigt. Die Krisen und die Konflikte rücken näher, die Stimmung wird aggressiver. Die Menschen sind unzufriedenen und wissen nicht mehr, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln. Manchmal spürt man ja auch eine gewisse Verzweiflung, angesichts der Geschehnisse in der Welt und aus genauso einer Verzweiflung heraus habe ich den Titel ”Gott steh uns bei" geschrieben. Auf der anderen Seite habe ich aber auch ein sehr hoffnungsvolles und verbindendes Lied geschrieben. Es heißt “Eine Welt eine Heimat”, denn auch wenn sich die Situation auf der Welt gerade nicht unbedingt zum Positiven entwickelt hat, so gibt es am Ende des Tages doch mehr Hoffnung, mehr Menschlichkeit als Zerstörung und mehr Liebe als Hass."
Und es gibt die Musik. Denn eines darf man bei Adel Tawil niemals vergessen: Was er auch tut. Womit er sich auch immer beschäftigt. Was auch immer ihm wiederfährt und mit welchen Hochs und Tiefs er zu kämpfen hat. Am Ende ist Adel Tawil ein Sänger, der die Lieder die er singt, lebt. Mit jeder Faser seines Seins. Mit all seiner Kraft, seinem Mut und seiner Hingabe.
“Im Endeffekt will ich Songs singen, die man im Bauch fühlen kann. Lieder, die ganz ich sind.”
“So schön anders” ist ein Album von Adel Tawil. Ein Album, auf dem er ganz er selbst ist.
Eine Stimme. Ein Künstler. Seine Lieder.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger.